Besichtigung der Domäne Mittelhof und des Herrenhauses am 29. Mai 2005


Frau Thiersch, Landeskonservatorin i.R., Herr Fulda-Lengen, Vorsitzender des Zweigvereins Felsberg im Verein für hessische Geschichte und Landeskunde, sowie Herrn Strack informierten über die Geschichte der Domäne Mittelhof und die kunstgeschichtliche Bedeutung des im frühen 17. Jahrhundert erbauten Herrenhauses.

Der Mittelhof bei Gensungen

ist in seiner Entstehung und seinen Veränderungen bislang kaum erforscht. Archivalische Recherchen konnten auch von der Verfasserin vorerst nicht geleistet werden. Deshalb muss sich der nachfolgende Bericht zunächst auf die wenigen Angaben bei Georg Dehio - Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler - Hessen (bearbeitet von Magnus Backes, 2. Aufl. 1982), Vorgänge der jüngeren Zeit und Beobachtungen am Bestand beschränken.

Die Anlage des Hofes ist gebettet in die nach Süden und Westen sich öffnende Mulde eines Hanges nördlich des ehemaligen Klosters bzw. der Kartause Eppenberg. Vermutlich entstand sie in der Folge der Übernahme des Klosters und Bewirtschaftung seiner Ländereien durch die hessischen Landgrafen nach der Reformation. Soweit aus noch erhaltenem Baudetail der Kirchenruine des ehemaligen Klosters zu schließen, diente zunächst die zu diesem Zweck ausgebaute Kirche als ländlicher Herrensitz.

Der nach Dehio Anfang des 17. Jh. unter Landgraf Moritz auf dem heutigen Mittelhof errichtete kubische Baukörper des sogen. „Herrenhauses“ erhebt sich in der Mittelachse des südlich vorgelagerten, gepflasterten Wirtschaftshofes. Seine dreigeschossigen „Seitenflügel“ wirken gegenüber dem zweigeschossigen Mitteltrakt wie Erkertürme, obwohl die Fassadenflächen keinerlei Vor- und Rücksprünge aufweisen. Der Umriss des Baues wird allein durch die bewegte Dachgestaltung geprägt, deren Firste über den dreigeschossigen Seitentrakten in Nord-Süd-Richtung verlaufen und nach Süden und Norden in Wahnen enden, während First und Traufe über dem Mitteltrakt gleichsam dazwischen gespannt parallel zur nach Süden gerichteten Hauptfassade angeordnet sind. Über eine zweiläufige aus Werk-Sandstein gearbeitete Freitreppe vor der Südfassade betritt man das von toscanischen Sandsteinpilastern flankierte Rundbogenportal in der Mittelachse der Fassade. Die an der Nord- und Südseite zweibahnig, an der Ost- und Westfassade ursprünglich dreibahnig ausgebildeten, von profilierten Werksteingewänden eingefassten Fenster sind streng symmetrisch angeordnet.

Überall an den in Bruchsteinmauerwerk ausgeführten Außenflächen finden sich noch Reste eines in bewegtem Ductus mit der Kelle aufgetragenen, einlagigen Verputzes der Bauzeit aus trocken gelöschtem Kalkmörtel mit weißer Kalktünche - ganz ähnlich dem Verputz an den Fassaden des Hofes Heydau, die im frühen 17. Jh. - urkundlich belegt - unter Landgraf Moritz errichtet wurden. Auf der dem Hof abgewandten Nordseite des Gebäudes finden sich - den ehemaligen Wohngemächern in den Außenzonen des Baues zugeordnet ­ - noch die Aborterker mit den im Sockelbereich angeordneten Zugängen zu den Auffangbehältern, die der Entsorgung dienten, - selten erhaltene Dokumente historischer Sanitärausstattung. Seit der Errichtung des neuen Pächterwohnhauses - wohl in den 1960er-Jahren im Norden, oberhalb des Hofkomplexes - wurde das Herrenhaus nur noch sporadisch zu untergeordneten Wohnzwecken sowie zu Verwaltungs- und Lagerzwecken genutzt und in seiner baulichen Unterhaltung vernachlässigt, 1970 sogar ein Abbruchantrag gestellt.

Der Wirtschaftshof wird an seiner Ost- und Westseite von niedrigeren, zweigeschossigen, ebenfalls in Bruchsandsteinmauerwerk mit Satteldächern errichteten Wirtschaftsgebäuden flankiert, die Bauinschriften von 1630 und 1668 tragen. Sie sind anhand ihrer in Werksandstein gefassten Tor-, Tür- und Fensteröffnungen als Scheune im Westen und Stallung im Osten zu erkennen, beherbergten aber im Obergeschoss neben Fruchtlager wohl auch Unterkünfte für Hofbedienstete. Im Zuge der sich wandelnden, landwirtschaftlichen Nutzung haben sie mehrfach Eingriffe und Veränderungen erfahren.

Das hinter dem Herrenhaus ansteigende Gelände ist terrassiert und war vielleicht ursprünglich gärtnerisch gestaltet. Auf den Terrassenflächen wurden - wohl im frühen 19. Jh. - traufständig an den Höhenlinien weitere Wirtschaftsgebäude errichtet, die mit ihren in Werkstein gefassten Rundbogenöffnungen an die Musterentwürfe des preußischen Landbaumeisters David Gilly in seinem Handbuch der Landbaukunst aus dem Ende des 18. Jh. erinnern. Das südliche Gebäude auf der ersten Terrasse hinter dem Herrenhaus wurde 1978 abgerissen, das nördlich, oberhalb davon gelegene, nach 1985 zu Verwaltungs- und Ausstellungszwecken für die derzeitigen Pächter umgebaut. Die in Backstein im Süden zu beiden Seiten des Hofzuganges gegen Ende des 19. Jh. errichteten Häuser dienten als Wohnungen fpr die Melker und Domänenpersonal.

Zur Bau- und Nutzungsgeschichte des Herrenhauses

Für die Datierung des Gebäudes bei Dehio in das frühe 17. Jh. sprechen die schlichten Bauformen, das entsprechend italienischen Vorbildern der Renaissance von toscanischen Pilastern flankierte Eingangsportal, die Übereinstimmung der Außenputz-Reste mit denen der aus den Jahren 1608-1610 stammenden Fassaden des Hofes Heydau in Altmorschen und die noch aus der Bauzeit erhaltenen Türbekleidungen in der Eingangshalle des Hauses. Die mehrbahnigen, oben beschriebenen Fenster der Fassade mit ihren profilierten Sandsteingewänden könnten auch auf eine Bauzeit noch im späten 16. Jh. schließen lassen. - Die beiden, jeweils dreibahnigen Fenstergruppen in allen Geschossen der Westfassade erlaubten den Blick in das Edertal und die Kuppenlandschaft der Niederhessischen Senke nur vor der Errichtung der den Hof flankkierenden Wirtschaftsgebäude des mittleren 17. Jh. Sie sind heute weitgehend zugemauert.

Die Betonung der Gebäude-Ecken des kubischen Baues durch die gegenüber dem Mitteltrakt erhöhten, dreigeschossigen Seitenzonen mit abgewahnten Dächern, die den Eindruck von Ecktürmen erwecken, sowie die vom Haupteingang im Süden bis zur nördlichen Außenwand durchgehende Mittelhalle, von der aus die Räume zu beiden Seiten in jedem Geschoss erschlossen werden, erinnern an Landhäuser bzw. Sommerschlösser des Adels und der Bischöfe von Brixen in Südtirol. - Der ursprünglich die gesamte westliche Raumzone im zweiten Obergeschoss einnehmende, später in kleinere Räume unterteilte Saal besaß anfänglich zwei jeweils dreibahnige Fenster nach Westen und je zwei zweibahnige Fenster nach Süden und Norden mit ausgesucht schönem Blick in die umgebende Landschaft und hatte offenbar die Funktion des belvedere italienischer Villen der Renaissance.

Wie aus dem Bestand ablesbar, hat das Gebäude in seinem Inneren in Anpassung an die sich wandelnden Nutzungen vom herrschaftlichen Sommersitz zum Pächter- und Verwalterhaus eines Wirtschaftshofes bzw. einer Staatsdomäne im Lauf der Jahrhunderte einige Veränderungen erfahren. - Während die räumliche Grundstruktur in ihren ursprunglichen Längs- und Querwänden offenbar erhalten blieb, wurden die vormals sehr großzügig bemessenen Räume des Erd- und des zweiten Obergeschosses durch zusätzliche Zwischenwände in kleinere Räume unterteilt.

In den Räumen des Erdgeschosses, die östlich der Mittelhalle wohl immer als Küche und Vorratsräume, westlich der Halle als Renterei bzw. Schreibstube und Gesindestube dienten, blieben die Türbekleidungen der Bauzeit erhalten, außerdem eine Anzahl von Türblättern mit je zwei quadratischen Füllungen und zugehörigen Hespenbändern in verschiedenen Geschossebenen, sowie die Treppengeländer mit in Taubandform geschnitzten Stäben vom zweiten zum dritten Obergeschoss, das vermutlich über längere Zeiträume seltener genutzt wurde. Dagegen wurden die Treppe vom Erd- zum ersten Obergeschoss und sehr viele Türen zu Räumen gehobener Nutzung und der durch neue Raumteilungen gewonnenen Räume im 19. Jh. erneuert.

Der gesamte,überlieferte Fensterbestand aus Eichenholz mit zugehörigen Beschlägen entstammt dem späten 18. und frühen 19. Jh. und wurde in den Jahren 1999-2003 im Bereich der Südfassade im Zuge erster Sicherungsmaßnahmen restauriert, um den Schlagregeneintrag in das Gebäude vorzubeugen. Für die Restaurierung der Fenster in der ebenfalls dem Schlagregen ausgesetzten Westfassade konnten die benötigten Mittel wohl bislang nicht bereit gestellt werden. In den Räumen sind die Ablaufspuren des eindringenden Regenwassers unter den Fenstern erkennbar. An einem der Werksteingewände der Fenster im Obergeschoss stellte man während des temporären Ausbaues der Fenster unter Abplatzungen neuerer Anstriche eine farbige Fassung - vermutlich eine Marmorierung - fest. Es ist davon auszugehen, dass sich unter jüngeren Putzen und Anstrichen im gesamten Gebäude - insbesondere um Fenster und Türen sowie imBereich von Sockel- und Brüstungszonen noch umfangreiche Reste historischer Raumfassungen bzw. Bemalungen finden.

Die bisher für Untersuchungen des Bauzustandes und Notsicherungsmaßnahmen bereit gestellten Mittel reichten für bauhistorische und restauratorische Untersuchungen, wie sie den Instandsetzungs- und Sanierungsmaßnahmen an solchen noch weitgehend unerforschten Baudenkmälern vorausgehen müssen, nicht aus. Lediglich Notabstützungen der labilen Decken im östlichen Gebäudeteil wurden nach einer Tragwerksuntersuchung durch das Büro Prof. Dr. Haberland + Arcjinal + Zimmermann aus Kassel vom damaligen Staatsbauamt (heute Hessisches Baumanagement) im Jahr 1999 veranlasst, außerdem die restauratorische Notsicherung des absturzgefährdeten, Balkenfolgenden Deckenputzes, dessen Stückprofile die Kanten des Balkenreliefs begleiten. Durch eindringendes Wasser aus einer über lange Zeit offen stehenden Kehle in der Dachhaut zwischen dem Mitteltrakt und dem nordöstlichen Erker auf der Nordseite des Daches und einer undichten Abflussleitung im nordöstlichen Teil des Obergeschosses sind die Decken in weiten Bereichen schwer geschädigt. Die Fehlstelle in der Dachhaut wurde zwar durch die Neueindeckung des Daches vor dem Übergang des Mittelhofes an die derzeitigen Pächter 1981 behoben, die geschädigte Dach- und Deckenkonstruktion darunter jedoch nicht repariert, so dass bei Absenkung der Konstruktion in diesem Bereich die erneute Entstehung von Leckstellen im Dach nicht auszuschließen ist.

Wie bereits gesagt, konnten Nachforschungen in den Archiven zu Einzelheiten der Bau- und Nutzungsgeschichte des Mittelhofes und seiner Außenanlagen bisher noch nicht geleistet werden. Ebenso fehlten bisher die finanziellen Mittel für bauhistorische und restauratorische Untersuchungen zur Klärung der Bauphasen und verdeckter Ausmalungsbefunde bzw. historischer Raumgestaltungen. Aufgrund der wenigen bekannten Daten und seines erkennbaren Baubestandes kann das „Herrenhaus“ des Mittelhofes bei Gensungen jedoch als einziger erhaltener Renaissance-Neubau eines landgräflichen Landschlosses des Hauses Hessen-Kassel im nordhessischen Raum gelten, der in seinem Äußeren und der Grundstruktur seiner Raumdisposition noch weitgehend dem Bestand der Bauzeit entspricht und vielfältige Elemente an Ausstattung des 17.-19. Jh. aufweist.

Angesichts der sichtbaren und fortschreitenden Schäden sind weitergehende Maßnahmen zu seiner Sicherung und Erhaltung dringlich. Für sie sollten noch vor der sicherlich nicht kurzfristig möglichen Entwicklung eines Sanierungs- und Nutzungskonzeptes Mittel bereit gestellt werden können, um weiteren Verlusten vorzubeugen. Es ist sehr zu wünschen, dass bald eine Lösung zur nachhaltigen Sicherung und Restaurierung des Mittelhofes in Verbindung mit einer angemessenen und verträglichen, neuen Nutzung gefunden werden kann.

Katharina Thiersch, Landeskonservatorin i.R., Marburg, Mai 2005