„Mit Tränen in Augen Spritze aufgezogen“

Vortrag über die Rolle der Pflegeberufe während der NS-Zeit in „Euthanasie“-Ausstellung Korbach

 
 
Bei einer Führung durch die Ausstellung des Wolfgang-Bonhage-Museums informierte Dr. Wilhelm Völcker-Janssen (links) die Geschichtsvereine Frankenberg und Itter-Hessenstein über NS-Euthanasie-Opfer in Waldeck-Frankenberg. Fotos: Karl-Hermann Völker
 

„Eine Darstellung der Pflege im Nationalsozialismus ist unvollständig und lückenhaft ohne die Beschreibung ihrer Beteiligung an der Vernichtung von Hunderttausenden“, erklärte Ruth Piro-Klein, Leiterin des Bildungszentrums am Stadtkrankenhaus Korbach und stellvertretende Vorsitzende des Zweigvereins Frankenberg, als sie im Wolfgang-Bonhage-Museum anlässlich der Ausstellung zur NS-„Euthanasie“ in Waldeck-Frankenberg (9.9.2009 bis 25.4.2010) über die Rolle der Pflegenden im NS-Staat sprach.

 

Dr. Wilhelm Völcker-Janssen (links) und Dr. Wolfgang Werner dankten Roth Piro-Klein, Leiterin des Bildungszentrums am Korbacher Krankenhaus, für ihren anschaulichen Vortrag.

Mehr als 100 Zuhörer waren zu diesem Vortrag gekommen, darunter Mitglieder der Geschichtsvereine Frankenberg und Itter-Hessenstein, die sich zuvor bei einer speziellen Führung von Museumsleiter Dr. Wilhelm Völcker-Janssen durch die Ausstellung mit den Patientenmorden und Zwangssterilisationen im Nazi-Regime auseinandergesetzt hatten. Davon betroffen waren überwiegend Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die nach der menschenverachtenden Ideologie der Nazis als „lebensunwert“ galten. Am Beispiel der Mathilde K., geboren 1890 in Fürstenberg, ermordet in Hadamar am 11.11.1943, wurde das verbrecherische Vorgehen besonders deutlich. Nach schweren Schicksalsschlägen wurde sie depressiv und kam in die Provinzialheilanstalt nach Warstein. Von dort wurde sie nach Hadamar verlegt und dort am 11. November 1943 ermordet.

 

An Schwester Emilie Engelmann, die in Arolsen ihr anvertraute Patienten schützte, erinnerte dieser Teil der Ausstellung im Bonhage-Museum.

„Mit Tränen in den Augen haben wir dann diese Spritze aufgezogen“, zitierte Ruth Piro-Klein in ihrem Vortrag Hilde Steppe, Pflegereferentin im hessischen Sozialministerium von 1988 bis 1997 und Buchautorin von „Krankenpflege im Nationalsozialismus“. Piro-Klein, die in ihrem Vortrag zuvor die Geschichte der professionellen Pflege von der katholischen Frauengemeinschaft der Vinzentinerinnen über Ernst Theodor Fliedner oder Florence Nightingale bis hin zu Agnes Karll geschildert hatte, beschrieb eindrucksvoll, wie radikal sich Ethik und Funktion der Pflege in der NS-Zeit veränderten und Pfleger zu nützlichen Werkzeugen des Regimes wurden. Sie belegte dies mit einer Fülle von Gesetzestexten, Ausweisen, Trachten und Bildern aus Fachzeitschriften jener Zeit. Am Beispiel verschiedener Zwischenanstalten und Mordzentren beschrieb Ruth Piro-Klein, dass die Pflegenden in der Ausführung des „Euthanasie“-Programms an allen Umsetzungsphasen beteiligt gewesen seien. Dies habe begonnen bei den „braunen Gemeindeschwestern“ auf dem Dorf, die Kranke und Behinderte meldeten. Und es endete mit der Beteiligung der Ärzte und Pfleger an den Tötungsvorgängen während der Aktion „T 4“ von 1939 bis 1941 oder an der ab 1941 beginnenden zweiten „dezentralen“ Phase der „wilden Euthanasie“.

 

Mathilde K. aus Fürstenberg, die in Hadamar umgebracht wurde, gehört zu den vielen Opfern, derer in der Ausstellung zur NS-„Euthanasie“ in Korbach namentlich gedacht wurde

Die Expertin des Korbacher Krankenhauses, die in ihre Ausbildung heutiger Gesundheits- und Krankenpfleger stets auch einen Besuch in der Gedenkstätte Hadamar einbezieht, wo während des „Dritten Reichs“ etwa 15000 Patienten ermordet wurden, erinnerte aber auch an Beispiele des Widerstandes: So würdigte sie beispielhaft die Arolser Diakonisse Emilie Engelmann, die Vinzentinerin Anna Bertha Königsegg oder die Franziskanerin Maria Restituta, die ihr anvertraute Patienten beschützten. Pfarrer Karl Preising konnte sich auf die Mithilfe vieler Helser verlassen, als er Bewohner des Arolser Bathildisheims rettete.

 

Die menschenverachtende Ideologie der Nazis vom „lebensunwerten“ Leben wurde in der Korbacher Ausstellung an zahlreichen Dokumenten wie diesem Plakat sichtbar.

 

Wie unterschiedlich das Pflegepersonal mit Fragen der eigenen Schuld umging, machte Ruth Piro-Klein am Ende des Vortrags an Prozess- und Spruchkammeraussagen deutlich, die nach dem Krieg Nazi-Verbrechen aufarbeiten wollten. Die NS-Täter hätten Menschen als „lebensunwert“ deklariert und in ihre systematische Ermordung seien auch „Anstalten in unserer Region flächendeckend mit eingebunden“ gewesen, erklärte nach reger Diskussion am Ende des Vortragsabends Dr. Wolfgang Werner, Vorstandsvorsitzender des Lebenshilfewerkes Waldeck-Frankenberg, als er Ruth Piro-Klein dankte. „Es muss viele Helfer gegeben haben.“

Jürgen Siegesmund
 
 

Die NS-Täter bemühten sich um Geheimhaltung ihrer Patientenmord-Aktionen. Dennoch waren die grauen Busse der „Gekrat“ mit verhängten Fensterscheiben, die auch Behinderte aus Haina/Kloster abholten, für die Bevölkerung im Straßenbild nicht zu übersehen.