Kein Mantel des Schweigens und des Vergessens. Geschichtsverein und Kirchengemeinden erinnerten gemeinsam an 75 Jahre Pogrome

„Wir wollen nicht den Mantel des Schweigens und Vergessens über das Unrecht hängen, das damals auch hier in Frankenberg und überall in Deutschland begangen wurde“, erklärte Pfarrer Christoph Holland-Letz, als er am Abend des 10. November 2013 gemeinsam mit Pater Norbert Rasim von der katholischen Kirchengemeinde einen ökumenischen Gedenkgottesdienst zur Erinnerung an die Novemberpogrome vor 75 Jahren eröffnete. Mehr als 100 Christen beider Konfessionen hatten sich dazu in der Liebfrauenkirche eingefunden.

Eine vom Geschichtsverein vorbereitete Tafel mit Dokumentarfotos neben dem Altar, dazu Bildblätter, die jeder Gottesdienstbesucher in Händen hielt, erinnerten daran, wie in der Nacht vom 9. auf den 10. November von NS-Horden auch die Synagoge im Scharwinkel geschändet, das Schulhaus verwüstet, jüdische Familien misshandelt und bedroht wurden. Mitglieder des Frankenberger Zweigvereins für hessische Geschichte und der katholischen Kirchengemeinde St. Mariae Himmelfahrt lasen dazu beklemmende Schilderungen und Zeugenaussagen vor, die Stadtarchivar Dr. Horst Hecker in seinem Buch „Jüdisches Leben in Frankenberg“ dokumentiert hat.

 
 
In einem ökumenischen Gottesdienst erinnerten Pater Norbert Rasim (links) und Pfarrer Christoph Holland-Letz in der Liebfrauenkirche mit Bildern und Textdokumenten an die Ereignisse der Novemberpogrome 1938 in Frankenberg. Fotos: Völker
 

Dabei wurden die von der NSDAP mit „spontanem Volkszorn“ begründeten Szenen als von langer Hand staatlich organisierte Zerstörungswut entlarvt, Vandalismus und Ausschreitungen gegen jüdische Bürger sowie die Massenverhaftungen der jüdischen Männer am 10. November als politische Machtdemonstration beschrieben. Die über 60-jährigen verschleppten Frankenberger Juden kamen, wie Pater Norbert aus Dokumenten zitierte, „beschleunigt“ aus KZ Buchenwald zurück, sobald ihre Angehörigen das Reisegeld bezahlt hatten. Lehrer Ferdinand Stern, der bereits im Frankenberger Amtsgerichtsgefängnis geschlagen worden war, starb in Buchenwald.

 
 
Der Frankenauer Pfarrer Adolf Kraft wurde 1938 nach kritischen Äußerungen in Schutzhaft genommen. Das Bild mit seinen Konfirmanden entstand zwei Jahre zuvor.
 

Wegschauen oder Widerstand, warum schritt damals niemand ein? Pfarrer Holland-Letz schilderte das Beispiel des Pfarrers Adolf Kraft, der nach der Pogromnacht in der nächsten Konfirmandenstunde die Geschichte vom Barmherzigen Samariter mit einem verunglückten Arier und einem helfenden Juden, der in pflegte, umformuliert hatte. Er wurde in Schutzhaft genommen und musste Frankenau verlassen. Es habe auch Bürger gegeben, die bis zum Schluss heimlich ihre jüdischen Nachbarn unterstützt hätten. „Aber niemand protestierte öffentlich, alle schauten weg, alle schwiegen.“

Verlesen wurde aber auch ein Brief der aus Gemünden mit 13 Jahren vertriebenen Jüdin Ruth Zur, die bei aller Verbitterung die enge Freundschaft mit ihrer Nachbarfamilie Möbus, besonders zwischen ihren Großvätern, „die sich Treue bewahrt hatten in schwerster Zeit“ beschrieb. Das „gute, das wertvolle Deutschland“ sei für sie in diesem Haus lebendig geworden und habe sie den Weg zurück aus Israel nach Gemünden finden lassen.

Zwischen den Lesungen reflektierte Kantor Daniel Gárdonyi mit Improvisationen auf der Böttner-Orgel die Atmosphäre der Pogromnächte mit bedrückender, tonschöpferischer Intensität.

Karl-Hermann Völker

 
 
Die Nazis verschleppten den 67-jährigen jüdischen Gemeindevorsteher Emil Plaut und mehrere andere jüdische Frankenberger am 10. November 1938 in das KZ Buchenwald.