Anna von Viermund – siegreiche „Erbtochter zu Nordenbeck“ – Dr. Peter Witzel stellte ein bemerkenswertes Frauenschicksal vor

„Das Weib hat in der Gemeinde zu schweigen“, urteilt der Apostel Paulus. Anna von Viermund dachte nicht daran, ihren Mund zu halten. Frauen erben nicht, sie müssen lediglich mit einem Brautschatz abgefunden werden, schreibt das fränkische Recht vor. Anna von Viermund gab sich damit nicht zufrieden. Als ihr Vater an Karfreitag des Jahres 1563 unerwartet starb, kämpfte sie verbissen um das stattliche Erbe.

Bis vors Reichskammergericht in Speyer zog sie, um ihre Ansprüche gegen drei Vettern durchzusetzen. Sie erregte damit Aufsehen im gesamten Adel „zwischen Nuhne und Diemel, Ruhr und Edder“: Brachte sie als „minderwertige“, dem Manne nach Moral und Recht der damaligen Zeit untergebene Frau etwa althergebrachte Traditionen zu Fall? Sie brachte: Die „Erbtochter zu Nordenbeck“ setzte sich nach 24 Jahren voller Streitigkeiten und Prozessen durch und bekam den Besitz ihres Vaters samt hohem Schadensersatz zugesprochen.

 
 
Andreas Herber schuf 1594 das Epitaph für Anna von Viermund in der Kirche von Nieder-Ense, fünf Jahre vor ihrem Tod.
 

„Klug, fromm – verbittert“

In seinem bebilderten Vortrag beim Frankenberger Geschichtsverein im Kreisheimatmuseum nahm sich Dr. Peter Witzel aus Korbach dieser außergewöhnlichen Frauengestalt an. Dabei griff er auch auf Recherchen von Hans-Otto Lan­dau über Viermünden und Annas Familie zurück. Der Referent charakterisierte die Adelige als „klug, fromm, demütig und willensstark“ – aber auch als „verbittert, kaltherzig, unversöhnlich und nachtragend“ – der lange Streit mit der Verwandtschaft hinterließ seine Spuren.Trotz des Namens habe das aus der Ziegenhainer Gegend stammende Adelsgeschlecht nie in Viermünden gelebt, berichtete er. Es besaß im Dorf allerdings vier Höfe, Wälder und Felder und teilte sich mit den von Derschs das Gericht.

Annas Vorfahren waren im Dienste Kurkölns Burgmannen in Hallenberg, durch Heirat kamen sie 1346 an die Wasserburg in Nordenbeck bei Korbach, dessen 1412 von Ambrosius von Viermund erbauter Turm voriges Jahr restauriert worden ist. Annas Vater Hermann von Viermund sei der wohlhabendste Vertreter des niederen Adels in Waldeck gewesen, berichtete Dr. Witzel. Als Amtmann in Westfalen und Paderborn und großer Landbesitzer hatte er üppige Einnahmen. Zwischen Viermünden und Sachsenberg ließ er das Rittergut Hermannsberg errichten, von dem heute aber nur noch ein Brunnen und eine Steintreppe erhalten sind.

Während er in Diensten des katholischen Erzbischofs in Köln stand, kämpfte sein Bruder Johann mit den Protestanten im Schmalkaldischen Krieg. Als er 1548 fiel, übernahm Hermann die Vormundschaft über dessen drei Söhne Philipp, Arnold und Johann – genau dieses brüderliche Trio sollte 1563 Annas Erbe für sich beanspruchen.

Anna war Hermanns einzige Tochter. Die damals 25-Jährige war noch nicht verheiratet, als er starb. Nach dem althergebrachten fränkischen Recht waren nur die männlichen Nachkommen erbberechtigt. Darauf pochten auch die drei Vettern, die sich zudem noch auf einen Nordenbecker „Burgfrieden“ des Jahres 1495 berufen durften: Danach durfte „keine Tochter Anteil am Schlosse haben“.

 
 
Der restaurierte Wohnturm des Wasserschlosses Nordenbeck aus dem Jahr 1412.
 

Bibel gegen Recht

Doch Hermanns „selig nachgelassene, ebenbürtige Tochter“ konterte mit der Bibel: Sie berief sich auf das vierte Buch Mose, Kapitel 24, Vers 8:
„So einer stirbt und hat nicht Söhne, so sollt ihr das Erbe seiner Tochter zuwenden.“

Wenigstens den halben Besitz wollte sie haben, samt der Burg, in der sie 1538 zur Welt gekommen war. Sie hatte in Nordenbeck ein Faustpfand: die fünf Kisten mit den Familiendokumenten, die ihre Vettern gern in ihre Hände bekommen hätten. Gab es da etwa ein Testament Hermanns? Doch Anna hielt die „Briefkammer“ der Burg vor ihnen fest verschlossen, der erbitterte Streit nahm seinen Lauf.

Ein Verhandlungstag zu Nordenbeck fünf Monate nach Hermanns Tod führte zu keinem Ergebnis. Die Parteien sammelten Gefolgsleute hinter sich. Graf Wolrad von der Eisenberger Linie Waldecks unterstützte die drei Vettern, Graf Philipp IV. von der Wildunger Linie Anna. Unruhe kam in der evangelisch gewordenen Grafschaft auf, als sie auch den mächtigen katholischen Herzog Heinrich den Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel umwarb und drohte, ihm Nordenbeck als Lehnen zu geben.

Am 19. Dezember 1563 kam der nächste strategische Zug: Anna heiratete im Haus des Korbacher Apothekers Heinrich Knibben heimlich Philipps Sohn Heinrich IX. von Waldeck-Rhoden. Auch der hessische Landgraf Philipp „der Großmütige“ mischte sich ein. In den „Tagen zu Corbach“ versuchte er vom 20. bis 22. Dezember zu schlichten – vergeblich.

In den Tagen um Weihnachten eskalierte der Streit. Annas Vettern versuchten, mit Gewalt in die „Briefkammer“ der Burg einzudringen, in einer wilden Prügelei schlug Anna sie mit der Hilfe ihrer Oma und einiger Mägde zurück. Doch „in der Nacht des dritten Christtages“ hatten die Vettern Erfolg. Sie nahmen die Burg ein und schafften die Urkunden und das Silbergeschirr mit schweren Wagen ins paderbornische Dringenberg. Dr. Witzel fragte sich: „Wo war Graf Heinrich IX?“

 
 
Die Unterschrift der Anna von Viermund.
 

Zwei hessische „Rezesse“

Aber immerhin der Hesse Philipp wurde aktiv. In zwei „Rezessen“ entschied er im Januar und Februar 1554, das Erbe solle bis zu einer Gerichtsentscheidung beiden Teilen gehören, Urkunden und Silber mussten nach Nordenbeck zurückgebracht werden – die Vettern behielten aber die Burg und ließen Anna nur ungern ein.

Sie zog mit ihrem Mann in die heute nicht mehr bestehende Burg Naumburg bei Netze, später in die Burg Itter und dann ins aufgelöste Kloster oberhalb Nieder-Werbes. Bezeichnenderweise nannte sich Anna auf Urkunden nicht Gräfin zu Waldeck, sondern konsequent „Erbtochter zu Nordenbeck“ – ein Hinweis auf ihre Ansprüche.

Im Sommer 1564 wandte sich Anna ans höchste deutsche Gericht, das Reichskammergericht. Die bis heute üblichen Spielchen der Advokaten begannen, erst im April 1577 entschied Speyer: Annas Anspruch auf das „halbe Haus Nordenbeck mit seinen Zubehörungen“ sei rechtens – die Regeln des fränkischen Erbrechtes waren durchbrochen. Um die Höhe des Erbes zu bemessen, sei jedoch eine „Inventur“ der mehr als 2000 Urkunden aus den Jahren 1314 bis 1562 erforderlich.

Am 3. Oktober 1577 starb Annas Mann Heinrich. Ins Reich der Legenden verwies Dr. Witzel eine blutrünstige Geschichte über seinen Tod. Danach wollte er mit einer Schar gegen Annas Vettern ausreiten, doch sein Pferd scheute und warf ihn ab, er blieb im Steigbügel hängen und kam zu Tode. Dr. Witzel fragte, warum Heinrich noch gegen die Vettern ins Feld ziehen wollte, wo doch das Gericht Anna Recht gegeben hatte.

Wieder gab es bei Gericht Verzögerungen, erst Anfang 1581 bekam Anna von ihrem Vetter Arnold die halbe Burg übertragen. Zu Ostern löste sie ein Gelübde ein und stiftete für die Hofkapelle eine regelmäßige Freitagspredigt. Dr. Witzel verwies auf einen Pfarrerwechsel in Nieder-Ense: 1581 hatte Antonius Steinrück seinen Dienst angetreten. Hatte Anna so lange gewartet, bis der Vorgänger Jonas Trygophorus ausgeschieden war? Außerdem ließ sie im Dorf ein Armenhaus einrichten.

Vor Gericht klagte sie indessen auch die Hälfte der Besitztümer und Lehen im Amt Medebach und der Freigrafschaft Züschen ein. Sie reiste zu Verhandlungen nach Speyer, wo sie auch den Gerichtspräsidenten Kuno von Winnenberg und Beilstein kennenlernte. Im September 1581 begann eine 17-köpfige Truppe Advokaten und Schreiber in Nordenbeck mit der Inventur. Sie trug in mehr als vier Wochen 688 Urkunden auf 986 Seiten eines „Rotulums“ zusammen.
1583 schied Kuno als Präsident aus. Im Juli heiratete Anna ihn – aus Dankbarkeit? In einem langen Ehevertrag ließ er sich Annas Besitz und Ansprüche für den Fall ihres kinderlosen Ablebens überschreiben.

Nach Informationen von Dr. Witzel aus dem Mosel-Dorf Beilstein galt Kuno als „roh und gewalttätig“. Und die große Liebe scheint es nicht gerade gewesen zu sein: Anna habe später auch gegen ihren Mann prozessiert, bemerkte Dr. Witzel.
Im September 1587 endete das Revisionsverfahren: Anna siegte auf ganzer Linie. Vetter Arnold und die Witwe Philipps mussten ihr die „unglaubliche Summe von 125 000 Goldgulden zahlen – damit waren alle bitterarm“. Nach Arnolds Tod musste seine Familie auch den gesamten Hausrat, selbst Kleider und Bettzeug herausgeben. „Das waren Demütigungen, die sie sich nicht entgehen ließ und die sie nicht sympathisch machen“, kommentierte Dr. Witzel. „Sie hat ihre Verwandten ausgesogen und ausgezogen.“

 
 
Die Kapelle von Nordenbeck, gestiftet von Anna von Viermund.
 

Dank an Gott für den Sieg

1589 hinterlegte sie in Korbach ihr Testament, das als „Extractus“ im Marburger Staatsarchiv liegt. Darin dankt die „hartherzige Siegerin“ Gott für die „friedliche Aussöhnung“ und die Demütigung der Vettern. 1594 gab sie das Epitaph für die Nieder-Enser Kirche bei dem Kasseler Steinmetz Andreas Herber in Auftrag, in dem sie ihr Leben schildern ließ.

Sie starb am 16. April 1599. Da sie kinderlos geblieben war, erbte ihr Mann Kuno. So endete die Herrschaft derer von Viermund über die Nordenbecker Burg.

Mit einigen Bildern stellte Dr. Witzel die einst stark befestigte Burg mit ihrem mächtigen Turm und die Nieder-Enser Kirche vor, in der Anna beigesetzt wurde. Das hohe Wandepitaph steht bis heute in dem Gotteshaus und erinnert an die Adelige. Ihr Erbstreit ist in einem langen Gedicht dargestellt. Dafür fehlt im unteren Teil die Tafel mit ihren Lebensdaten. Doch auch ohne sie ist das Schicksal der Adeligen noch gegenwärtig.

Dr. Karl Schilling

 

Mit einem Buchgeschenk bedankte sich Ruth Piro-Klein für den Geschichtsverein bei Dr. Peter Witzel.