Nachwuchstagung für hessische Geschichte und Landeskunde 2003
Am 21. / 22. November fand in der Reinhardswaldschule bei Kassel (Gemeinde Fuldatal) erstmals die „Nachwuchstagung für hessische Geschichte und Landeskunde“ statt. Dreizehn junge ForscherInnen aus verschiedenen Feldern der hessischen Landesgeschichte stellten in Kurzvorträgen ihre Arbeitsvorhaben vor. Die Tagung löste nicht nur bei den Nachwuchswissenschaftlerinnen, sondern auch bei den sechzehn teilnehmenden Vereinsmitgliedern ein äußerst positives Echo aus.

Konzeption der Tagung
Es war die Absicht der von Prof. Dr. Ursula Braasch-Schwersmann und Dr. Wolfgang Breul angeregten und vorbereiteten Nachwuchstagung, unterschiedliche Felder der hessischen Geschichte und Landeskunde miteinander ins Gespräch zu bringen. Zugleich sollte eine Brücke zwischen der aktuellen historischen Forschung zum hessischen Raum und dem Verein und seinen Mitgliedern geschlagen werden. Beides ist über Erwarten gut gelungen.
Insgesamt dreizehn Referenten und Referentinnen stellten sich in fünf Sektionen mit ihren wissenschaftlichen Projekten der Diskussion, die von vier Betreuern geleitet wurde. Kirchengeschichte, mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte, Kunstgeschichte, Zeitgeschichte und Europäische Ethnologie boten ein breites Spektrum an Themen. Gleichwohl waren damit nicht alle Felder und alle Lehrstühle, an denen sich NachwuchsforscherInnen mit hessischer Landesgeschichte beschäftigen, vertreten. So konnten diesmal beispielsweise Germanistik (Sprachatlas), Musikgeschichte, Archäologie in dem bewußt eng gehaltenen zeitlichen Rahmen der Tagung nicht berücksichtigt werden. Sie sollen einer etwaigen Folgeveranstaltung vorbehalten bleiben.

Kirchengeschichte
Die von Dr. Wolfgang Breul für den erkrankten Prof. Dr. Hans Schneider geleitete Sektion der Kirchengeschichte beschäftigte sich mit zwei spätmittelalterlichen Themen. Rajah Scheepers aus Berlin stellte ihre gerade abgeschlossene Dissertation zu Landgräfin Anna, der Mutter Philipps des Großmütigen, vor. Nach ihrer von der Frauen- und Geschlechtergeschichte inspirierten Arbeit sah sich die Landgräfin, die sich im Kampf um die Macht nach dem Tod Landgraf Wilhelms des Mittleren (1509) schließlich 1514 durchsetzte, einer doppelten weiblichen und männlichen Rollenerwartung konfrontiert, die sie auszutarieren suchte. Burkhard zur Nieden (Marburg) befaßt sich mit den Bettelorden in Marburg. Seine Untersuchung neuer Quellen, insbesondere der Rechnungsbücher, führt zu einem neuen Bild der Marburger Ordensreform um 1500. Das zu jener Zeit brisante Thema wurde vom Verfasser am Beispiel des Franziskanerklosters vorgestellt. Die von Landgraf Wilhelm III. gegen den Widerstand des Konvents durchgesetzte Reform machte aus dem stadtbürgerlich geprägten Kloster eine landgräfliche Anstalt.

Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
Die von Privatdozent Dr. Otto Volk betreute Sektion Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit blieb in ihrem ersten Vortrag den fiskalischen Quellen verpflichtet. Stephan Hagenbusch (Marburg) widmet sich in seinem in den Anfängen stehenden Dissertationsprojekt dem umfangreichen Quellenbestand der landgräflichen Rechnungen. Am Beispiel der Grubenhagener Fehde (1461) konnte er vorführen, wie die Geld- und Sachmittel für diesen militärischen Konflikt innerhalb der Landgrafschaft aufgebracht wurden, wie also die materielle Basis des politischen Handelns beschaffen war. Dr. des. Ullrich Hanke (Marburg) stellte auf der Basis seiner bereits abgeschlossenen Dissertation die bislang von der Forschung vernachlässigte hessische Besatzung der Reichsabtei Fulda während des Dreißigjährigen Kriegs (1631-1633) vor. Sie ergab sich aus einer für die Protestanten günstigen politischen Großwetterlage. Die auf eine langfristige Inbesitznahme des alten hessischen Interessengebiets ausgerichtete moderate Politik des hessischen Landgrafen (bspw. Zurückhaltung bei Veränderungen Kirchen- und Religionssachen) scheiterte nach der Niederlage der Protestanten in der Schlacht bei Lützen. Stephan Schwenkes (Marburg) abgeschlossene Dissertation verglich die hessischen Garnisonstädte Marburg und Ziegenhain in der Frühen Neuzeit. Soweit die Quellenlage dies zuließ, nahm er die Fragestellung der neuen Militärgeschichte auf, die das Militär in sozialgeschichtlicher Perspektive untersucht. Das Verhältnis zwischen Stadtbürgern und Soldaten, das unterschiedliche Heiratsverhalten von Offizieren und Mannschaftsgraden und die unterschiedliche städtebauliche Entwicklung Marburgs und Ziegenhain waren unter anderen Gegenstand seines Vortrags. Jochen Ebert, Mitarbeiter an dem von Prof. Dr. Heide Wunder geleiteten Forschungsprojekt zur – ca. 10 km nördlich von Kassel gelegenen – Domäne Frankenhausen und ihrem Umland, stellte wirtschaftliche, soziale und agrarische Aspekte der Domänenwirtschaft am Beispiel der Pächterin Katharina Elisabeth Most in der Zeit des Siebenjährigen Kriegs vor. Kriegsbedingte Pachtrückstände aufgrund von Requirierung und Ernteausfällen führten die Witwe in Konflikt mit der landesherrlichen Verwaltung, die schließlich zur Aufgabe der Pacht führten.

Kunstgeschichte
Dr. Harald Wolter-von dem Knesebeck führte in die beiden Forschungsprojekte der Kasseler Kunsthochschule ein. Marion Jäckel stellte die Ergebnisse ihrer Magisterarbeit zum Grabmal Landgraf Philipps des Großmütigen in der Martinskirche zu Kassel vor, das in mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit der Vergangenheit darstellt: in der Aufgabe der bis dahin genutzten Grablege des Hauses Brabant in der Marburger Elisabethkirche, in der Abkehr von der Tumbenform und schließlich in der Ausführung durch niederländische Bildhauer. Zum Philippjahr wird die Referentin einen Kunstführer zu diesem Grabmal veröffentlichen. Petra Werner stellte anhand eines Gemäldes von Johann Melchior Roos (1728) ihr Dissertationsprojekt zur Menagerie Landgraf Carls von Hessen-Kassel vor. Das großformatige Bild idealisiert das in der Karlsaue gelegene Tiergehege des Landgrafen in einer paradiesartigen Szene. Es soll die Realität der Natur und ihrer in der Menagerie versammelten Vertreter abbilden und zugleich überbieten. Die Referentin zog einen Vergleich zu den zeitgenössischen Kunst- und Wunderkammern und dem dahinter stehenden Wissensideal einer Rekonstruktion der Welt in einem selbständigen Mikrokosmos.

Neuere und neueste Geschichte und Zeitgeschichte
Die von Prof. Dr. Winfried Speitkamp (Gießen) betreute Sektion bot fachlich ein ausgesprochen breites Spektrum. Claudia Klemm (Gießen) wandte die – ursprünglich von der Alten Geschichte und der mittelalterlichen Geschichte ausgegangene, inzwischen aber in allen Epochen der Geschichtswissenschaften beheimatete – Perspektive der Memorialkultur auf ein zeitgeschichtliches Thema an. Ihr Dissertationsvorhaben fragt danach, welche Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten mit welchen Absichten und Anknüpfungspunkten an die Revolution von 1848 erinnert haben. Am Beispiel der Frankfurter Feier 1923 zeichnete sie die politischen und diplomatischen Verwicklungen auf, die das Revolutionsgedächtnis in diesem Krisenjahr aufwarf. Kai Naumanns (Frankfurt a.M.) Dissertationsvorhaben widmet sich der unmittelbar nach Kriegsende von der US-amerikanischen Besatzungsmacht initiierten Reform des Justizvollzugs im neu entstehenden Bundesland Hessen. Der Neuansatz, der die Einführung einer Einheitsfreiheitsstrafe, Hafterleichterung und vor allem eine Resozialisierung mit erhöhtem Personalaufwand vorsah, konnte auf Reformvorschläge der Weimarer Zeit zurückgreifen und ließ Hessen trotz einer 1951 erfolgten Abschwächung der Reform auch in diesem Bereich zu einem Musterland für die sich in den 1960er und 1970er Jahren durchsetzende Erneuerung des Strafvollzugs werden. Dr. Holger Zinns (Wiesbaden) Habilitationsprojekt zur Wirtschaftsgeschichte des Rhein-Main-Gebiets stellt sich einer enormen Quellenfülle und gewichtiger methodischer Probleme. Der Referent führte dies an der Entstehungsgeschichte des Begriffs „Rhein-Main-Gebiet“ und an der – ungeklärten – Frage nach dessen räumlicher Abgrenzung vor. Gegenüber den älteren Versuchen einer rein räumlichen oder nur an Gewerbestandorten orientierten Definition verknüpft sein Ansatz bei den Pendlerbewegungen räumliche und gewerbliche Perspektive zu einer Definition, welche der Ausdehnung des Wirtschaftsraums entspricht. Michael Müllers (Marburg) in Arbeit befindliche Dissertation widmet sich der Wirtschafts- und Sozialpolitik unter dem hessischen „Landesvater“ Georg August Zinn. Müller legte dar, wie die Regierung Zinn auf der Basis der Wirtschaftskraft des Rhein-Main-Gebiets und einer wirtschaftsfreundlichen Politik zielstrebig mit einer „Plan-Politik“ (Jugendplan, kleiner und großer Hessenplan etc.) die Entwicklung des Landes insbesondere auch im ländlichen Raum förderte und damit zu einem sozialdemokratischen Musterland und Gegenentwurf zur Adenauerschen Politik entwickelte.

Europäische Ethnologie / Volkskunde
Thomas Schindler (Marburg) stellte die „Marburger Irdenware“ vor, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit ca. 60 Töpferwerkstätten mit ca. 600 Mitarbeitern einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Universitätsstadt bildete. Das seit etwa zwei Jahrzehnten wieder in der Marburger Oberstadt verkaufte Alltagsgeschirr mit seiner prägnanten Motivik wurde vor 150 Jahren europaweit verkauft; noch heute ist Paris der wichtigste Umschlagplatz der zur Antiquität gealterten „Marburger Ware“. Schindler will mit seiner Dissertation die wirtschafts-, sozial- und technikgeschichtlichen Aspekte der Produktion, ebenso aber auch die kulturgeschichtliche Seite der Rezeption dieser Töpferware untersuchen.

Das positive Echo auf die Tagung verdankt sich m.E. mehreren Faktoren. Zuerst sind hier das hohe Engagement und die fachliche Kompetenz der Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen zu nennen. Sie haben es verstanden ihre Interessengebiete so interessant darzustellen, daß das Gespräch im Anschluß ohne Mühe in Gang kam und oft genug mit Blick auf den Zeitplan abgebrochen werden mußte. Dazu gehört auch, daß häufig Medien sinnvoll und gekonnt zur Ergänzung des Vortrags eingesetzt wurden. Zu den angeregten Gesprächen, die während der Pausen und Mahlzeiten ihre Fortsetzung fanden, haben wesentlich das über die Grenzen des eigenen Fachs hinausreichende Interesse der ReferentInnen und und die rege Beteiligung der Vereinsmitglieder beigetragen. Die gelassene und kompetente Moderation der Duskussionen durch die Betreuer tat ein übriges. So ist es in einem nicht unbedingt zu erwartenden Maße gelungen, einen die Fachgrenzen überschreitenden Austausch zur hessischen Geschichte und Landeskunde zu führen, der in zahlreichen Kontakten unter den Vortragenden und zu den anwesenden Vereinsmitgliedern, die während der Tagung geknüpft wurden, seine Fortsetzung finden wird. Viele der ReferentInnen, Betreuer und Vereinsmitglieder haben gegenüber den Veranstaltern ihren Dank an den Verein für die Ausrichtung der Nachwuchstagung und ihre Hoffnung auf eine Folgeveranstaltung zum Ausdruck gebracht.

Wolfgang Breul

Tagungsprogramm

Freitag 21. 11.
13.30 Uhr Begrüßung
13.40 Uhr

Schwerpunkt Kirchengeschichte
Einführung Dr. Wolfgang Breul  (Universität Marburg)

13.50 Uhr

Rajah Scheepers
Landgräfin Anna von Hessen (1485-1525)
Forschungsstand - Vorgehen - Perspektiven

14.30 Uhr

Burkhard zur Nieden
Bettelorden in Marburg
Die gewaltsame Reform des Marburger Franziskanerklosters 1496

15.10 Uhr Pause
15.20 Uhr

Schwerpunkt Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Einführung PD Dr. Otto Volk (Universität Marburg)

15.30 Uhr

Stephan Hagenbusch
Wirtschaftliche Grundlagen von Landesherrschaft
Zur Geschichte der Landgrafschaft Hessen im späten Mittelalter (1247-1509)

16.10 Uhr

Ullrich Hanke
Die Besetzung des Stifts Fulda durch die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1631-1634

16.50 Uhr

Stephan Schwenke
Stadt und Militär. Marburg und Ziegenhain in der Neuzeit

17.30 Uhr

Jochen Ebert
Administrative, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse der Domäne Frankenhausen vom Ende des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

18.10 Uhr Abendessen
20.00 Uhr Offener Abend
Samstag 22. 11.
8.00-8.30 Uhr Frühstück
8.45 Uhr

Schwerpunkt Kunstgeschichte
Einführung Dr. Harald Wolter-von dem Knesebeck (Universität Kassel)

8.55 Uhr

Marion Jaeckel
Das Grabmal Philipps des Großmütigen in der Martinskirche zu Kassel

9.35 Uhr

Petra Werner
Die Menagerie des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel
Ein Beitrag zur "Einheit" von Natur und Kunst im Barockzeitalter

10.15 Uhr Pause
10.30 Uhr

Schwerpunkte Neuere und neueste Geschichte und Zeitgeschichte
Einführung Prof. Dr. Winfried Speitkamp (Universität Gießen)

10.40 Uhr

Claudia Klemm
Zur Erinnerung an die Revolution von 1848 in Frankfurt/Main und Berlin

11.20 Uhr

Kai Naumann
Strafvollzug in Hessen nach 1945
Entstehungszusammenhänge eines Erfolgsmodells

12.00 Uhr

Mittagessen

13.30 Uhr

Einführung Prof. Dr. Winfried Speitkamp
Holger Zinn
Das Rhein-Main-Gebiet. Räumliche Abgrenzung und statistischer Befund 1866 bis 1945

14.15 Uhr

Michael Müller
Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Ära Zinn 1951-1969
Hessen als „sozialdemokratisches Musterland“

14.55 Uhr Pause
15.10 Uhr

Schwerpunkt Europäische Ethnologie/Volkskunde
Einführung PD Dr. Siegfried Becker (Universität Marburg)

15.20 Uhr

Thomas Schindler
Marburger Irdenware

16.00 Uhr Schlußworte von Verein und Tagungsleitung
16.15 Uhr Tagungsende

Der Tagungsort: Die Reinhardswaldschule bei Kassel, Verwaltungs- und
Seminargebäude. Fotos: Jochen Ebert

An der Nachwuchstagung des Vereins nahmen dreizehn Nachwuchswissenschaftler,
vier Betreuer und sechzehn Vereinsmitglieder teil.

Von rechts nach links: Claudia Klemm (Gießen, Vortrag: Zur
Erinnerung an die Revolution von 1848 in Frankfurt/Main und Berlin),
Betreuer Prof. Dr. Winfried Speitkamp (Univ. Gießen), Prof. Dr. Ursula
Braasch-Schwersmann (Univ. Marburg, Hess. Landesamt für Geschichtliche
Landeskunde), Stephan Schwenke (Marburg), Ullrich Hanke (Marburg).

Von rechts nach links: Dr. Holger Zinn (Wiesbaden, Vortrag: Das
Rhein-Main-Gebiet. Räumliche Abgrenzung und statistischer Befund 1866
bis 1945), Horst Apel (Witzenhausen), Kurt Drebing (Witzenhausen),
Martin Ludwig (Melsungen), Kai Naumann (Frankfurt), Michael Müller
(Marburg), Thomas Schindler (Marburg).

Von links nach rechts: Petra Werner (Kassel), Dr. Harald Wolter-von
dem Knesebeck (Univ. Kassel), Siegfried Pietrzak (Melsungen), Klaus
Lohrmann (Melsungen), Dr. Hans-Jürgen Kahlfuß (Vereinsvorsitzender), Dr.
Günter Hollenberg (Staatsarchiv Marburg, Herausgeber der Hessischen
Forschungen), Dr. Wolfgang Breul (Univ. Marburg).

Von rechts nach links: Burkhard zur Nieden (Marburg), Stephan
Hagenbusch (Marburg), Privatdozent Dr. Otto Volk (Univ. Marburg, Hess.
Landesamt für Geschichtliche Landeskunde), Imrid Bernert (Kassel).

Von links nach rechts: Rajah Scheepers (Berlin), Petra Werner
(Kassel), Bodo Faecke (Homberg).

"Mitteilungen" und Zeitschrift des Vereins fanden bei den Referenten
und Referentinnen regen Zuspruch.

Am Rande der Tagung gab es für die Mitglieder des Vereins reichlich
Gelegenheit, mit den Nachwuchswissenschaftlern ins Gespräch zu kommen.
Auch nach den Vorträgen stand die Diskussion für alle Teilnehmer offen.
         

Die Tagungsstätte erwies sich mit Ihrem guten Essen und ihrer
schönen Umgebung als gute Wahl.

Mittagspause.

Mittagspause.
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