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König Jérôme und der Reformstaat Westphalen. Ein junger Monarch und seine Zeit im Spannungsfeld von Begeisterung und Ablehnung, hrsg. von Helmut Burmeister bei Mitarbeit von Veronika Jäger (Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde 47), Hofgeismar 2006

400 Seiten, ISBN 3-925333-47-9, Ladenpreis 28,50 €, Mitgliederpreis 20,00 €.

Nach seinen Siegen über Österreich, Preußen und zuletzt Russland (1806/07) war Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht. Ein Ergebnis des Friedens von Tilsit (6.-9.7.1807) war die Errichtung des Königreichs Westphalen im Westen, das u. a. aus dem Kernland des alten Kurhessen, aus dem Herzogtum Braunschweig, Teilen des Königreichs Hannover und den alten preußischen Gebieten westlich der Elbe bestand.

Zum westphälischen König bestimmte Napoleon seinen jüngsten Bruder Jérôme, mit dem ihn eine besondere, zwiespältige Beziehung verband und dem er, nach der erzwungenen Scheidung von der Amerikanerin Elisabeth Patterson, die württembergische Königstocher Katharina an die Seite stellte. Grundlage des neuen Staates sollte eine auf dem Code Napoleon genannten Gesetzbuch gründende liberale Verfassung sein. Tatsächlich wäre Westphalen - hätte es sich zu dem geplanten „Modellstaat" entwickeln können - der modernste und fortschrittlichste Staat des damaligen Europa geworden. So gab es zwar eine Reihe durchaus einschneidender Reformen, der „Modellstaat Westphalen" aber konnte in den nur sechs Jahren der Existenz des Königreichs nicht errichtet werden wegen der napoleonischen Kriege und der hohen finanziellen Belastung. Mit der für Napoleon verlorenen Völkerschlacht von Leipzig war auch das Ende des von ihm geschaffenen Königreichs gekommen.

Die völlig einseitige und oberflächliche Be- und Verurteilung Westphalens und seines Königs nach 1813 hat über viele Jahrzehnte das Bild jener Zeit bestimmt. Die in mehreren Kriegen sich entladenden Spannungen zwischen den angeblichen „Erbfeinden" Deutschland und Frankreich haben ein faireres Urteil über Jérômes Herrschaft im Herzen Deutschlands erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Neuansatz in der Bewertung jener Zeit gewagt; in diesem Zusammenhang sind alle Ausstellungen zu sehen, die ab 2006 gezeigt werden. Das Stadtmuseum Hofgeismar beginnt seine Ausstellung 200 Jahre nach der Inbesitznahme Kurhessens durch französische Streitkräfte und der ersten Veröffentlichung eines Erlasses durch General Lagrange. Die Ausstellung nimmt das Gebiet Hessen-Kassels und damit die westphälische Hauptstadt Kassel in den Blick und fragt nach dem Staatsaufbau, nach der Art der eingeleiteten Reformen und nach ihrer Wirkung. Der Widerstand gegen die sog. „Fremdherrschaft" wird ebenso thematisiert wie das während Jerömes Herrschaft veränderte, freiere Lebensgefühl. Angesichts der immer wieder gegen Jérôme gerichteten Vorwürfe der Geldverschwendung und der Ausschweifungen werden auch diese wichtigen Themen behandelt.

Begleitend zur Ausstellung „König Jérôme und der Reformstaat Westphalen" erscheint unter gleichem Titel der angezeigte Themenband, zu dem 21 namhafte Autoren beigetragen haben. Nach einer kurzen Problemdarstellung wird der Soll-Zustand des Modellstaats Westphalen mit dem Ist-Zustand des Reformstaats in einer grundlegenden Analyse verglichen. Von Jérôme selbst, seiner Gattin Katharina und seiner Geliebten Diana von Pappenheim (aus Liebenau) werden eindringliche Porträts entworfen. Die Opposition wird ebenso ausführlich in mehreren Beiträgen dargestellt wie die wahrscheinlich bedeutendste Reform, die bürgerliche und religiöse Gleichstellung der Juden. Wir erleben mit, wie die Kasseler Bürger das savoir vivre der Franzosen erlernen und nachahmen. Ohne Vergleich in der Literatur ist der umfangreiche Beitrag über das „Geld", der die Münzprägung ebenso beleuchtet wie die Staatsanleihen. Der Domänenstreit, Kanalbaupläne und anderes sind Themen eines Bandes, der nicht nur oft neue Perspektiven vermittelt, sondern in vielen Fällen überhaupt erst neues Wissen präsentiert.