Kurzreferat

Kurzreferat anläßlich der Vorstellung der ZHG 107 (2002) am 28. November 2002 im Eulensaal der Murhardschen Bibliothek in Kassel

Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der Frühen Neuzeit

Thomas Fuchs

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ganz Grundsätzlich dreht sich die Arbeit nur um eine Frage: Was ist Hessen? Aus der historischen Perspektive der Kulturwissenschaften ist Hessen ein Konstrukt, eine intellektuelle Imagination, ein Bild. Es ist nicht, sondern es ist gemacht worden. Darum geht es in dem Buch: wie Hessen hergestellt und wie diese Imagination genutzt wurde, und zwar von den politischen Eliten: den Landgrafen und den weiteren Herrschaftsträgern dessen, was in einem herrschaftlichen Sinne als Hessen bezeichnet wurde. Der Herrschaftsbegriff Hessen stand vor allen anderen Dingen, die damit bezeichnet wurden und werden. Hessen war das Ergebnis politisches Wollens und Handelns, es war ein Herrschaftsprodukt. Es wurde vor allem durch Geschichtsschreibung historisch hergestellt: als Idee des Hessenlandes.

Geschichtsschreibung in der frühen Neuzeit war zunächst ein Herrschaftsrecht, Ausdruck realer oder imaginierter politischer Macht, deren realer Stellenwert zwar nur schwer zu messen ist, aber durchaus vorhanden war, und wenn sie nur der Begründung von Ansprüchen diente. Geschichtsschreibung wurde massiv von den Obrigkeiten gefördert und beeinflußt, denn es gab ihnen und der Bevölkerung Identifikationsmöglichkeiten sowie Argumente in verschiedensten Auseinandersetzungen in einer Epoche, in der Recht über Macht und Tradition definiert wurde.

Geschichtsschreibung stellte in der frühen Neuzeit den Herrschaftsträgern und der Bevölkerung eine „fundierende Erzählung“ von Staat, Gesellschaft und Dynastie bereit, die einem Wechselspiel von Konstruktion und Dekonstruktion unterworfen war. Neben ´materiellen´ Faktoren wie dem Dreißigjährigen Krieg waren diese Transformationsprozesse von allgemeinen ideengeschichtlichen Veränderungen geprägt. Es handelte sich für unser Thema um drei allgemeine Wissensbrüche in der frühen Neuzeit, die konstitutiv für die historiographische ´memoria´ waren: 1. Humanismus/Reformation; 2. Frühaufklärung um 1700; 3. Spätaufklärung/Historismus seit den 1760er Jahren.

Im Zusammenhang mit diesen Wissensbrüchen steht jeweils die inhaltliche und wissenstechnische Neuformulierung des Geschichtsbildes als eine ´fundierende Erzählung´. Diese neuformulierten Geschichtsbilder wurden wiederum zu Traditionen verdichtet, bevor in Krisensituationen das Paradigma dekonstruiert wurde. Eine solche Krisensituation entstand z.B. für das protestantische Geschichtsbild bzw. für die protestantische Geschichtstheologie mit dem Dreißigjährigen Krieg, in dessen Folge das konfessionelle Bewußtsein diskreditiert worden ist.

Die oben skizzierten drei Wissens- und Traditionsbrüche gliedern die Arbeit. Auf der Grundlage der spätmittelalterlichen hessischen Chroniken, die von Humanismus und Reformation unberührt waren, wird die Neuformulierung eines nun reformatorischen Geschichtsbildes dargestellt. Die Historiker schufen eine „fundierende Erzählung“ einer germanischen Volksnation, hier die Chatten, die in einem ethnisch definierten Raum, dem ehemaligen Siedlungsgebiet der Chatten, von den Landgrafen, die als Chattenfürsten bezeichnet werden, regiert werden. Diese neue fundierende Erzählung ist breit rezipiert worden und hat sowohl das alte kirchlich-heilsgeschichtliche Bild von der Geschichte mit dem Identifikationsmittelpunkt der heiligen Elisabeth als auch damit konkurrierende Geschichtsbilder verdrängt. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts ist diese im 16. Jahrhundert formulierte Imagination von hessischer Geschichte in verschiedenen Textsorten (Panegyrik, Casuallyrik, Historiographie, Predigten) zur emphatischen Tradition verdichtet worden, indem die Landgrafen dieses Geschichtsbild aktiv förderten.

Der Bedeutungsverlust der älteren Chronistik, ihr verlorengegangener Wahrheitsanspruch, korrespondierte mit einer Neuformulierung der Geschichtsschreibung in der Landgrafschaft Hessen seit dem frühen 16. Jahrhundert. Die Geschichtsschreibung, an ihrem Anfang stehen Johannes Nuhn und Wigand Gerstenberg, ging durch verschiedene Transformationsphasen, in deren Folge das Geschichtsbild, d.h. die Imagination einer spezifisch hessischen Vergangenheit, auf der Basis bestimmter theoretischer und methodischer Implikationen neu geschrieben wurde. Für diese Wissenstraditionen und ihre Brüche stehen exemplarische Werke. Waren die Chroniken Nuhns und Gerstenbergs, unberührt vom Humanismus, vollkommen der Tradition der kirchlichen Heilsgeschichte verpflichtet, so steht für die Epoche der humanistisch-reformatorischen Geschichtsschreibung paradigmatisch die hessische Chronik Wigand Lauzes. Lauzes Werk steht für die Formulierung eines reformatorischen Geschichtsbildes in Hessen, das den Landgrafen und ihrem Territorium eine Vergangenheit gab, in der nicht mehr die Geschichte des Heils im Vordergrund stand, sondern die germanische Vergangenheit der Landgrafen und der Bevölkerung.

Die Rückkehr zur germanisch-lutherischen Urreligion und die Konstruktion eines hessischen Nationalvolkes verschmolzen in der hessischen Historiographie des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer zentralen positiven Erinnerungsfigur des nationalen und individuellen Heils. Dies ist nach Lauze die positiv-teleologische Bestimmung der Geschichte der Chatten und Hessen. Die Geschichte läuft somit geistlich und weltlich auf das Regiment Landgraf Philipps hinaus, der einerseits die germanisch-lutherische Urreligion in Hessen restituierte, andererseits das hessische Volk regiert.

Die Ansprüche des Mythos manifestieren sich in der hessischen Landgrafschaft des 16. Jahrhunderts. Die mythischen Konzepte, errichtet als normative Referenzhorizonte, hatten die Herrschaftslegitimierung durch die hl. Elisabeth nicht nur verdrängt, sondern erschufen einerseits ein einheitliches ´Staatsvolk´ unter einer idealen Herrschaft der lutherischen Landgrafen, andererseits einen Herrschaftsanspruch, der weit über das eigentliche Territorium der Landgrafschaft hinaus reichte und auf absolutistisch-zentralistische Herrschaftslegitimierungen vorauswies.

Ihren monumentalen Ausdruck fand diese Geschichtskonzeption in der „Gründlichen und wahrhaften Beschreibung der Fürstentümer Hessen und Hersfeld“ des Johann Just Winckelmann, erschienen in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts. In diesem Werk kulminierte die obrigkeitliche Einflußnahme auf die Geschichtsschreibung. Schon die ihm vorausgegangenen Historiker hatten in Beamtenpositionen die Geschichte der Dynastie verherrlicht, dies gilt für Wigand Lauze ebenso wie für Wilhelm Dillich. Winckelmann wurde von Kassel und Darmstadt besoldet, den Druck bezahlte Karl I. und fast die gesamte Auflage gelangte nach Kassel, von wo aus sie vertrieben wurde.

Winckelmanns Werk steht aber nicht nur für eine offensive Geschichtspolitik der Landgrafen zur Verherrlichung von Land und Dynastie, sondern auch für das Scheitern der humanistisch-barocken Geschichtsschreibung in Auseinandersetzung mit frühaufklärerischen Wissenstechniken. Winckelmann arbeitete seit 1648 im Auftrag der Darmstädter Landgrafen an seiner Beschreibung und Geschichte Hessens. Wenige Jahre später beteiligten sich die Kasseler Verwandten an dem Werk und übernahmen schließlich die Führung bei diesem Unternehmen. Es dauerte fast 50 Jahre, bis zumindest die ersten fünf von sechs geplanten Teilen erscheinen konnten. 1686 tagte mehrere Monate eine Zensurkommission aus sechs Mitgliedern, je drei Professoren aus Marburg und Gießen, die die Chronik Winckelmanns im Sinne der Landgrafen grundlegend überarbeiteten.

Während dieser Zensur prallten die traditionale Geschichtskonzeption Winckelmanns und die von frühaufklärerischen Wissensstandards geprägten Ansichten der Zensoren unversöhnlich aufeinander. Im Prinzip sprachen die um einiges jüngeren Zensoren nicht mehr die humanistisch-barocke Sprache Winckelmanns.

Mit dem Eindringen frühaufklärerischen Gedankengutes ist dieses Geschichtsbild einer protestantischen Geschichtstradition wiederum verworfen und nun durch ein unter frühaufklärerischen Wissensforderungen neu zu schreibende Geschichte ersetzt worden. Leitbegriffe der Formulierung des neuen Paradigmas waren: Kritik, Urkundenforschung, Pragmatik. Geschichte durfte nun nicht mehr einfach nur als Kompilation und Glossierung der protestantischen Geschichtstradition geschrieben werden, sondern mußte idealtypisch immer wieder neu an den unmittelbaren Quellen verfaßt werden. Dies schien eine höhere Wahrhaftigkeit als die nun als unwissenschaftlich diffamierte traditionale Chronistik zu sichern.

Der Neuaufbau des Erinnerungsgebäudes mit den Methoden- und Wissensstandards der frühen Aufklärung war das Werk einer Gruppe von Historikern, von Karl Ludwig Tollner über Christoph Friedrich Ayermann bis Johann Hermann Schmincke, die die immer komplexer werdende Wirklichkeit nicht mehr mit der traditionalen humanistisch-barocken Wissenskultur in Übereinstimmung bringen konnten. Sie stehen für die anbrechende Moderne, in der sich der Mensch nicht mehr in einem unablässigen Strom der Zeit verorten kann, in dem Anfang und Ende bekannt sind, sondern sich immer wieder seinen Ort in der Aktualität und im Referenzhorizont der Gegenwart neu bestimmen muß.

Diese Geschichtsschreibung entwickelte sich zu einer spezifisch aufklärerischen Geschichtsschreibung weiter, deren Beginn insbesondere mit Johann Hermann Schmincke verbunden ist und bis zu Georg Friedrich Teuthorns elfbändiger „Geschichte der Hessen“ reicht. Die aufgeklärte Geschichtsschreibung entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer hochaufgeklärten Geschichtsschreibung französischer Prägung weiter, insbesondere in der Regierungszeit des frankophilen Landgrafen Friedrich II., der eine französischsprachige Geschichte Hessens in Auftrag gab. Nach dem Tode Friedrichs II. (1785) wurde Kassel von den Trägern französischer Kultur ´gesäubert´, und es kam nun eine allgemein im Reich zu beobachtende Nationalisierung des Geschichtsbildes zum Durchbruch. Nun wurde auch in Hessen die deutsche Nation imaginiert, in der die Hessen einen Teil ausmachten.

Mit Helferich Bernhard Wencks „Hessischer Landesgeschichte“ und Christoph von Rommels großartiger Synthese der hessischen Geschichte war auch in Hessen die Epoche des Historismus zum Durchbruch gelangt. In dieser Phase emanzipierte sich das Geschichtsbild des gebildeten Bürgers von der Geschichtspolitik der Landgrafen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit