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die Leserseite. Es ist ja keineswegs so, daß die Beschäftigung mit historischen Dimensionen nur ein liebenswertes, aber nicht weiter nützliches Hobby ist, da man aus der Geschichte ja nichts lernen könne. Es ist vielmehr unbestreitbar eine ganz wesentliche Aufgabe von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, die Orientierung in der eigenen Zeit nicht nur zu erleichtern, sondern sie erst eigentlich zu ermöglichen. Ohne ein Mindestmaß historischen Wissens kann niemand - und das ist wörtlich zu nehmen - sich in der Gegenwart wirklich zurechtfinden. Historische Kenntnisse sind dafür die unerläßliche Voraussetzung. Insofern hat die Geschichtsschreibung eine durch nichts zu ersetzende öffentliche Funktion. Das gilt selbstverständlich auch für die Stadtgeschichte. Diese Spezialdisziplin kann das Herkommen der modernen Gesellschaft sehr gut verdeutlichen. Die mittelalterlichen Städte waren Räume besonderen Rechts und damit vom Land klar geschieden. Sie waren in einer sonst überall stark gegliederten Ordnung Freiräume, in denen Rechtsgleichheit und Freiheit stark ausgeprägt waren; in ihnen war, um Edith Ennen zu zitieren, "keimhaft die staatsbürgerliche Gleichheit unserer Zeit" vorweggenommen. Der Entfaltung dieses Keims zu folgen, könnte mit Bezug auf die Gegenwart eine Hauptlinie stadtgeschichtlicher Betrachtung sein.

Indessen sollte man die Bedeutung der Historie für das Leben nicht nur als Erklärerin der Vorgeschichte unserer Verhältnisse sehen. Geschichte ist stets mehr als Vorgeschichte der Gegenwart. Jede Zeit war ja zu ihrer Zeit selbst Gegenwart und trug ihren Wert in sich. Ranke sprach in diesem Zusammenhang davon, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei. Erforschung und Darstellung der Vergangenheit, gleich wo sie ansetzen, haben die Aufgabe, überhaupt den Blick zu weiten, systemimmanente Denkweisen aufzubrechen, vermeintliche Notwendigkeiten und Sachzwänge fraglich erscheinen zu lassen, für selbstverständlich Gehaltenes kritisch zu überprüfen, kurz, den eigenen Standpunkt zu relativieren und so den Sinn für Alternativen, für fremde Haltungen, für das Andere zu schärfen. Sie müssen deshalb Zeit gleichsam aufweichen, sie verflüssigen, ihren Ablauf deutlich machen, indem sie die untersuchten Phänomene in ihrer jeweiligen Bedingtheit und Besonderheit, in ihrem Werden, ihren Wandlungen und ihrem Vergehen zeigen. Das ist nur möglich, wenn man sich nicht nur stets im Umfeld der eigenen Zeit aufhält. Wirklich fruchtbar wird Geschichtsbewußtsein erst dann, wenn es bereit ist, sich auch dem Fremden zu stellen und so den eigenen Erfahrungsbereich auszuweiten. Nur dann kann ein wirklicher Begriff von der Wandelbarkeit und Vielfalt des menschlichen Seins gewonnen werden, und nur dabei tritt der unwandelbare Kern des Menschen hervor. Geschichte ist, so gesehen, eine zutiefst anthropologische Wissenschaft.

Wo auch immer historisches Interesse ansetzt, kann diese Basis erreicht werden. Die Beschäftigung mit der Stadtgeschichte ist dazu ebenso geeignet wie alle anderen Fragestellungen an die Vergangenheit und in mancher Hinsicht vielleicht sogar besser, weil sie die Prozesse des Werdens, Wandelns und Vergehens in einem Raum zeigen kann, den ein relativ großer Teil der Leserschaft selbst kennt. Vielleicht kann gerade wegen dieser Bekanntschaft die Erfahrung des steten Sich-Veränderns gemacht werden. Was oben für die aktiv historisch Arbeitenden gesagt wurde, daß Stadtgeschichte eine Bereicherung der Methoden und der Sehweisen mit sich bringt, weil sie sich eher der Komplexität des Lebens zuwenden kann, gilt natürlich auch für die Leserschaft. Stadtgeschichte vermag einen volleren Begriff der Historie zu vermitteln als andere Teildisziplinen oder übergreifende Darstellungen. Sie ist deshalb in hohem Maße geeignet, historisches Interesse zu fördern.

Insofern möchte man sich wünschen, daß die gegenwärtige gute Konjunktur der Stadtgeschichtsschreibung noch längere Zeit andauert und reichen Ertrag zeitigt. Die wichtigste Forschungsaufgabe scheint mir gegenwärtig in der Schließung der Kenntnislücken zwischen den alteuropäischen Verhältnissen und unserer Gegenwart zu liegen, in der Erforschung der Schwellenzeit um 1800 und der anschließenden Industrialisierungsphase. Aber auch in allen anderen Epochen wartet noch viel Arbeit.

Hans Fenske   

aus: Pfälzer Heimat 35, Heft 2, 1984

 

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