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VI. Sitzung am 22. Februar 1901.

Herr Kantor Becker von Cappel sprach über Wesen, Erhaltung und Pflege des deutschen Volksliedes, besonders in Hessen.

Man merkte es dem Vortragenden bei jedem Worte an, dass er einen Gegenstand besprach, den er nicht nur durchaus beherrschte, sondern dem er mit Liebe und Verständniss den grössten Theil seiner freien Zeit gewidmet hat. Seit länger als einem Vierteljahrhundert sammelt er aus dem Munde des Volkes selbst unsere Volkslieder, und zwar, da die Hauptsache das gesungene Volkslied ist, vor allem auch die Melodieen der Volkslieder. Herr Kantor Becker steht mit unseren berufensten Arbeitern auf diesem Gebiete in Beziehung, und die von Dr. Böckel herausgegebene Sammlung: Volkslieder aus Oberhessen, auf die wieder einmal unsere Leser hinzuweisen wir gern Gelegenheit nehmen, beruht namentlich auf Herrn Beckers Sammlungen, und s. Z. zogen Becker und Böckel wiederholt in Hessen umher, um die schwierige Arbeit, den wenigen Leuten, die wirklich noch unverfälschte Volkslieder wissen, diese zu entlocken. Der Redner charakterisirte das Volkslied in kurzen, treffenden Worten als die feinste Bethätigung der Volksseele. Er wies kurz auf die seit Herders Stimmen der Völker entstandenen Sammlungen von Volksliedern hin und betonte, dass Poesie und Musik von einander unzertrennlich seien. Unser Volkslied ist jetzt im Absterben, nur noch in entlegeneren Gegenden, die von Eisenbahnen und Fabriken noch unberührt sind, hat es sich noch am meisten gehalten. Volkslieder werden namentlich gesungen in den Spinnstuben, auf dem Heimgang in’s Dorf, Sonntags Nachmittags vor den Dörfern, nach der Tagesarbeit. Die Burschen singen mehr Soldatenlieder und balladenartige; die Mädchen mehr Liebeslieder. Es haben sich in Hessen noch ganz alterthümliche Lieder erhalten, die zum Theil noch in’s sechzehnte Jahrhundert sich zurückführen lassen. Das Volkslied ist ein treues Bild von Charakter und den Lebensgewohnheiten des Volkes. Dieser Unterschied zeigt sich nicht nur bei nordischen und südlichen Völkern; sogar schon zwischen Oberhessen und Niederhessen ist ein bedeutender Unterschied bemerkbar. Die oberhessischen Lieder sind schwerfällig, ernst, melancholisch, die niederhessischen heiterer und leicht. Das Volkslied ist nicht dialektisch, sondern hochdeutsch, die Melodieen sind meist 2- und 3 stimmig und hat die Mittelstimme, ganz wie in alter Zeit der Tenor, die Melodie, während der Diskant die Begleitung hat. Die Strophen sind meist 2- oder 4 zeilig, oft tritt noch ein Refrain hinzu, der vielfach an Tanzlieder erinnert, heiterer Natur ist und in schnellerem Tempo sich bewegt. Es sind namentlich durch unvernünftige Schulmeister und durch Gesangvereine, die dem Volksliede mehr schaden als nützen, auch vielfach Kunstlieder, die jetzt gesungen werden, in das Volk gedrungen. Das Soldatenlied, das sich schnell von einer Landschaft bis zur anderen verbreitet, ist fast international geworden und ist kaum noch

 

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