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Während der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts entstand in Europa ein philosophisches System, das die Überzeugung vertrat, alchemistisches Wissen sei der Schlüssel zur Erkenntnis der Gesamt-Natur und damit auch des Menschen. Soweit sie nicht bereits aus vorangegangenen mittelalterlichen alchemistischen Traditionen erwachsen war, war diese sogenannte "chemische Philosophie" stark vom kosmologischen Vitalismus und Mystizismus der hermetischen Texte der Renaissance beeinflußt. Es war besonders der in der Schweiz geborene deutsche Arzt und Alchemist Paracelsus (ca. 1493-1541), der diese geistige Tradition weitgehend ausgebaut hatte. Vom Standpunkt der Paracelsischen Konzeption aus war die Schöpfung selbst ein Prozeß chemischer "Teilung", und eile Ereignisse und Entwicklungen in der Natur wurden als chemische Phänomene erklärt: Das Universum war ein chemisches Universum. Die Funktionen des menschlichen Körpers, der wiederum als Mikrokosmos der größeren Welt zu verstehen war, wurden ebenfalls durch chemische Verbindungen und Trennungen bewirkt.

Natürlich gab es unzählige Varianten dieses Schemas von rein philosophischen und mystischen Auslegungen bis hin zur praktischen Erklärung von Ereignissen in chemischer Terminologie. Selbst meteorologische Phänomene wurden mit chemischen Ursachen in Zusammenhang gebracht; die Vermischung von atmosphärischem Schwefel mit Salpeter z.B. erzeugen Donner und Blitz! 1) Sucht man nach dem intellektuellen Rahmen, in dem die zahlreichen verschiedenen Vorstellungen (philosophische wie praktische) des alchemistisch-paracelsistischen Gerüstes zusammenkommen, so zieht der Hof des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel (1572-1632) als potentieller Brennpunkt besondere Aufmerksamkeit auf sich; in erster Linie, weil ein Großteil der alchemistischen Bibliothek dieses Fürsten sowie die Hauptmasse seiner umfangreichen alchemistischen Korrespondenz die Jahrhunderte überdauert haben und nun Bestandteil der Landesbibliothek und Murhardschen Bibliothek in Kassel sind. Durch ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung erhielt ich das Privileg, diese Quellen langfristig und eingehend zu studieren. Meine Arbeit wurde täglich durch den Rat und die Ermutigung sowohl des Leiters der Handschriftenabteilung, Dr. Hartmut Broszinski, als auch von Frau Helga Grimm gefördert.

Die alchemistisch-paracelsistischen Interessen von Moritz sind bisher noch nicht im einzelnen untersucht worden. 2) Das ist verwunderlich, denn das handschriftliche Material in Kassel ist besonders ergiebig in bezug auf das Engagement des Fürsten auf den Gebieten der Alchemie und der Pharmazie. Hunderte von handschriftlichen Traktate, ein kurzes Tagebuch mit Berichten aus einem der Hof-Laboratorien, Sammelbände mit alchemistischen und pharmazeutischen Rezepten und fünf Foliobände mit Briefen von Alchemisten und Ärzten an den Landgrafen bilden den festen Kern des Forschungsmaterials. Mit der Analyse dieser Quellen entsteht ein Mosaik des hohen intellektuellen Standes am Hof von Moritz, und - was ich für das wichtigste halte - wir beginnen zu begreifen, in welchem Ausmaß fürstliche Förderung paracelsistischer Gelehrter und alchemistischer Adepten zur Schaffung eines Kontrapunktes beitrug, an dem theoretische und praktische Strömungen alchemistischer Tätigkeit zusammenflossen. Darüber hinaus liefert das Studium nützliche Informationen, die eine wichtige Hypothese über Moritz bestätigen können, nämlich, daß sein Interesse an Alchemie so weit ging, daß er an Projekten im Hoflabor persönlich teilnahm.

Ein auffallendes Merkmal im Moritz-Briefwechsel ist, daß scheinbar alchemistische Briefe überwiegend pharmazeutischen Inhalts sind. Das überrascht nicht. Schließlich sah die spätmittelalterliche Alchemie neben ihrem Hauptziel, der Auffindung des Steines der Weisen, in der Herstellung chemischer Heilmittel eine wesentliche Aufgabe. 3) Und doch ging das Interesse von Moritz an Medikamenten, einschließlich der Paracelsischen, so weit, daß er zu ihrer Herstellung eigene Laborversuche unternahm. Ein gedruckter Hinweis auf die Bereitung von Medikamenten durch den Landgrafen erscheint im Vorwort eines medizinischen Handbuches von Heinrich Petraeus, Professor der Medizin an der Universität Marburg, im Jahre 1614. 4)

 

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