..

-10-

 

Im Juni und Juli 1822 erteilt das Innenministerium der Regierung der Provinz Niederhessen den Auftrag, einen Bericht vorzulegen, der "alle Bestimmungen, welche sie für die endliche Regulierung dieser Angelegenheit für erforderlich hält, in einem Entwurf zu einem Reglement für den Cultus, Unterricht, das Ar menwesen, die eigenen Geld- und Schuldverhältnisse der Israeliten und der dazu erforderlichen Behörden und Anstalten zusammenstellt."20) Der Entwurf wird am 8. Dezember 1822 fertiggestellt und, nachdem er der Regierung der Provinz Oberhessen zur Stellungnahme unterbreitet worden ist, dem Innenminister mit den Voten beider Regierungen und einem Sondervotum des Marburger Regierungsrates Hast am 20. Mai 1823 zugeleitet.

Einig sind sich alle Gutachter darin, daß der Zustand der Juden, "ihr sittlich religiöser Verfall und ihre Unproduktivität im staatswirtschaftlichen Sinne" einer Verbesserung bedarf. In der Beurteilung der zu ergreifenden Maßnahmen weichen sie aber erheblich voneinander ab. Nach Auffassung der niederhessischen Regierung ist eine sittlich-religiöse Wandlung nicht "durch eine zu erzwingende Bekehrung zum Christenthume," sondern nur durch eine Verbesserung ihrer eigenen "Cultus- und Unterrichtsanstalten" zu erreichen. Die Erfahrung hat gelehrt, "daß direkter und indirekter Zwang im Prinzip falsch ist." Erfolge sind nur zu erwarten, wenn der "Weg innerer Überzeugung und Aufklärung nicht verlassen (wird)." Für ihn aber müssen die Juden selber gewonnen werden. Leider fehlt es dazu an tüchtigen Lehrern. "Denn die Lehrer und Rabbiner aus der in den letzten beiden Jahrhunderten vorgeltend gewesenen polnisch-deutschen Schule sind überall nicht mehr geeignet, jene Organe abzugeben, indem sie bey den sogenannten Aufgeklärten unter den Juden verachtet und bey ihren eigentlichen Anhängern aber bei weitem nicht genug geachtet, also weder tüchtige Lehrer der Einen, noch der Anderen sind. Dagegen keimt ein neues israelitisches Lehr- und Predigtamt auf: bereits lehren und predigen zu Berlin, Hamburg, Königsberg, Mainz pp jüngere jüdische Geistliche, welche rabbinische Gelehrsamkeit mit europäischer Wissenschaftlich keit und Bildung vereinigen."

Einen solchen Lehrerstand für Jugendliche und Erwachsene heranzubilden ist das Gebot der Stunde. Die Voraussetzung dafür bildet ein Landrabbinat, das unter staatlicher Aufsicht "die Leitung des gesammten Unterrichts und die Reinigung des Cultus (übernimmt)." Für eine Übergangszeit ist der Besuch der christlichen Schulen zwar unerläßlich, aber wenn der Staat "der Bildung zuverlässiger Männer sich versichert hat, so könnte ihnen hiernächst auch der gesammte Jugendunterricht anvertraut werden." Folglich öffnet die niederhessische Regierung den Weg auch zu eigenen israelitischen Schulen. "Wollen die Israeliten den ganzen Jugend- Unterricht von ihren Religionslehrern ertheilen lassen, so bedürfen sie dazu der Erlaubnis der Provinzialregierung. In diesem Falle muß aber der Lehrer nicht blos von dem Landrabbinat, sondern auch von der Schulprüfungscommission der Provinz dazu für tüchtig erkannt worden seyn. Dergleichen jüdische Schulen unterliegen auch den für die christlichen Schulen angeordneten allgemeinen Prüfungen und Vi sitationen, "zu denen ein Rabbiner oder ein Mitglied des zuständigen Vorsteheramtes hinzuziehen ist." Die Lehrer sollen ein angemessenes Gehalt bekommen; Privatlehrer dürfen ohne Erlaubnis der Regierung nicht unterrichten. Einige jüdische Jünglinge, die die nötigen Vorkenntnisse besitzen, sollen als Gäste ein christliches Lehrerseminar besuchen dürfen. Grundsätzlich aber müßte in Kassel "ein Lehrerseminarium errichtet, damit eine Musterschule in Verbindung gebracht und in solche die Kinder armer Eltern oder Waisen der Provinz aufgenommen werden." Die Residenzstadt als Ort des Seminars wird damit begründet, daß sie Sitz des Landrabbinats ist und dort "eine zahlreiche, vermögende und mannigfache Gegenstände und Mittel der Bildung und Übung darbietende Judenschaft vorhanden ist."

In ihrer Stellungnahme übt die oberhessische Regierung in Marburg an diesem Entwurf scharfe Kritik. Sie sieht "den versunkenen Zustand", in dem sich die Judenschaft befindet, in der bisherigen völligen Separation von den Christen, die,

 

..