Neben der für die frühneuzeitliche Staatsfüh-rung bedeutsamen Ebene der historischen Legitimation beinhaltet Dilichs "Hessische Chronica" eine brisante politische Ans-pruchsformulierung des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel. So zeigt zum Beispiel eine Karte die Ausdehnung des Siedlungsge-bietes der Chatten weit über die Grenzen des zeitgenössischen Hessens bis hin zum Teuto-burger Wald, zur Saale und über den Neckar hinaus.11 Damit ist unzweifelhaft ein Expan-sionsanspruch formuliert, der allein schon durch die Tatsache belegt wird, daß das vom hessischen Landgraf Moritz in Auftrag gege-bene Werk den Anspruch erhebt, eine Chro-nik von ganz Hessen zu sein, das heißt, daß auch das Territorium der mit Kassel um die Vorherrschaft im Lande konkurrierenden Landgrafschaft Hessen-Darmstadt mit einbe-zogen wurde.12 Seit der Teilung Hessens im Jahre 1567 nach dem Tode des Landgrafen Philipp, hatte die Kasseler Linie, die mit dem größten territorialen Anteil bedacht worden war, Anspruch auf die Führung im ganzen Land geltend gemacht. Nach dem Aussterben der Zweige Hessen-Marburg und Hessen-Rheinfels entwickelte sich ein Machtkampf mit der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, der schließlich im Dreißigjährigen Krieg zu einer der härtesten und blutigsten militäri-schen Auseinandersetzungen des gesamten Krieges werden sollte. Vor diesem Hinter-grund ist es verständlich, daß der Darmstädter Hof Einwände gegen die Chronik erhob. Aber auch bei den kleineren, unabhängigen Reichsständen löste das Werk Dilichs Empörung aus. Die im sogenannten Wetterauer Grafenverein zusammengeschlossenen Grafen von Nassau, Hanau, Solms Isenburg etc. beauftragten den Heidelberger Historiker und kurpfälzischen Rat Marquard Freher (1565-1614) mit der Abfassung einer Gegenschrift zur Widerlegung der hessischen Ansprüche, in der dieser Dilich mangelnde Geschichts-kenntnis vorwarf.13 Den Usurpationsansprü-chen des Landgrafen Moritz trat er mit religi-ösen Argumenten entgegen: "als Gott der Herr selbst in seinem Gesetz ausdrücklich gebotten/Du solt deines Nechsten Grentzen nicht zurucktreiben/die die Vorfahren gesetzt haben in deinem Erbtheil/daß du erbest im Landt so dir der Herr dein Gott geben hat einzunemmen."
Moritz reagierte auf diese im Jahre 1608 erschienene Gegenschrift, indem er versuchte, die gesamte Auflage der Gegenschrift durch Agenten aufkaufen zu lassen und gleichzeitig eine in größter Eile hergestellte dritte Auflage der hessischen Chronik auf den Markt zu bringen.
Horst Nieder

1. Hessische Chronica, zusamengetragen und verfertiget durch Wilhelm Scheffern genandt Dilich, und zu Cassel gedruckt durch Wilhelm Wessel, Cassel 1605. Zu Leben und Werk Dilichs vgl. Horst Nieder, Wilhelm Dilich (1571/72-1650). Zeichner, Schriftsteller und Kartograph in höfischem Dienst. Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeuschland, 28, Bamberg 2002.
2. "Eigene Bahnen geht Dilich aber bei der Darstellung der Frühgeschichte seines Landes. Von Willibald Pirkheimer sichtlich beeinflußt, betrachtet er erstmals die Chatten als die Ureinwohner des Landes und läßt mit ihnen seine Darstellung beginnen." Wilhelm Niemeyer, Nachwort zum Neudruck von Dilichs "Hessischer Chronica", Kassel 1961, S. 12.
3. Dilich , wie Anm. 1, S. 13
4. Niemeyer, wie Anm. 2, S. 12.
5. Allgemein zur Hessischen Geschichtsschreibung, Thomas Fuchs, Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der frühen Neuzeit, Kassel 2002.
6. Gerstenberg selbst benutzte überlieferte Chroniken, wie die des Johann Riedesel (1232-1327) und die sich zeitlich anschließende "Hessenchronik" (bis 1471). Für die Geschichte Thüringens zog er die Chronik des Johannes Rothe (um 1360-1434) heran, die 1421 vollendet war. "Der Wert seiner Arbeiten besteht hauptsächlich darin, daß er Quellen besaß, die uns theils gar nicht, theils nur in mangelhafter Gestalt erhalten sind". Allgemeine Deutsche Bibliographie, Leipzig 1877, Bd. 9, S. 66-67.