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Man erwartete nämlich in Kassel eigens, mein Urteil über die Örtlichkeit der Geismartat des Bonifatius zu hören. Seit 1919 hatte der im Hessischen beheimatete Kirchenhistoriker Karl Heinrich Schäfer4) wiederholt mündlich und schriftlich für Hofgeismar sich ausgesprochen, auch, am 6. März 1922 hier, im Kasseler Geschichtsverein, jedoch mehr Widerspruch erfahren als überzeugt. Mit Grund; denn die einzige zeitgemäße Quelle, das Bonifatiusleben des Mainzer Priesters Wilbald5), läßt nur an das dem heutigen Fritzlar nahe hessische Kirchdorf Geismar denken6) , keineswegs aber an das bereits sächsische, um 20 Meilen nordwärts abgelegene Hofgeismar.

So wenig man nun auch im Herbst 1922, bei der damals merklich wachsenden Inflation und Teuerung7), zu einem entbehrlichen Reisen neigte und mir selber in der Vorbereitung meiner Promotion ein Zeitvertun sich empfahl, habe ich doch die Einladung nach Kassel angenommen. Ich wollte zugleich stadtgeschichtliche und stadtkundliche Erinnerungen auffrischen, alte Bekannte wiedersehen, weitere hessische Geschichtsfreunde kennenlernen, vorab den überragenden Kulturhistoriker Prof. Dr. Georg Steinhausen8), der damals die Kasseler Murhard-Bibliothek leitete.

Die Verständigung über den Termin meines Vertrags, den 20. November, kam freilich beinahe von einem Tage zum anderen. Ich fand daheim keine rechte Muße mehr, mir die Gedankenfolge und die lebendige Form nennenswert zurechtzulegen; hierfür mußte die Fahrt von Münster nach Kassel genügen. An der Bahnsperre erwartete mich bereits ein Studienrat Prof. Dr. Artur F u c k e l9), in dessen Heim an der Parkstraße ich wohnen sollte. Er verhieß mir eine stattliche Versammlung, und zwar im Vortragssaal der Landesbibliothek am Friedrichsplatz. Dort wußte ich schon Bescheid.

Fuckels Zuversicht hatte nicht fehlgegriffen. Als wir gegen 20 Uhr die Landesbibliothek betraten, war der Saal bereits gefüllt. Das ist jedem Redner physisch und psychisch wertvoll; man spricht lieber, weil leichter, vor einer lückenlosen Versammlung. Ich war ob so reger Beteiligung angenehm überrascht; denn nicht überall erbringen große Städte ein derartiges Interesse, lassen eher Sattheit befürchten als Zuspruch erhoffen. Kassel barg unter seinen damals 160000 Einwohnern viele studierte und auch geschichtlich aufmerksame Leute; dafür sorgten schon die zahlreichen Oberbehörden dieser Residenz und hessischen Metropole, weiter die höheren Schulen, die Kirchen, die Bibliotheken und Museen, dazu die nicht wenigen Ruhestandsbeamten höheren Ranges in dieser hessischen Pensionopolis. Bei alledem: es war nebliger Herbst, gestern Sonntag gewesen, übermorgen sollte Buß- und Bettag sein; sowieso war die derzeitige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umschichtung nicht günstig, einem harmlosen Zusammenkommen wie ehedem eher abträglich als förderlich. — Wie wenige aus dieser großen Gemeinschaft mögen heute, nach fast 50 Jahren, noch leben, zumal nach dem Schicksal des Bombenkrieges!

Mir begegnete eine ungemein angenehme Gesellschaft, schlicht-vornehm, worin auch das seit Jahrhunderten angestammte reformierte Bekenntnis sich bekunden mochte. Ich habe zwei volle Stunden gesprochen, mit viel mehr Eifer und Vertrauen zur Sache, als mir, nach mittlerweile gewonnenem kritischen Urteil, jetzt noch möglich wäre. Nach einigen verbindlichen Einleitungsworten erzielte ich schnell den erwünschten seelischen Kontakt und erfreute mich dann einer wahrhaft vorbildlichen Achtsamkeit. Wobei freilich dienlich war, daß ich ohne Manuskript sprach, darum akustisch und visuell besser fesseln konnte. Wie sehr mein Vortrag zugesagt hatte, ließen die persönlichen Meldungen zum Schlusse erkennen. Darunter war zu meiner Überraschung ein namhafter Heerführer aus dem 1. Weltkrieg, Otto von B e l o w10), der „Sieger vom Tagliamento“, der sich im Ruhestande nach Kassel zurückgezogen hatte. Mit einem anderen Ruhestands-General, Dr. Gustav Eisen- [Eisentraut]

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