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Zu dem eben mit wenigen Strichen gekennzeichneten, so außerordentlich zurück-haltenden Verhältnis des Vereins zu seiner eigenen Geschichte und damit zu sich selber gibt es wohl keinen größeren Kontrast, als die Verdichtung der Vereins-, Gesellschafts- und Kommunalfeiern, wie wir sie heute erleben. Sie hat in unserem Jahrhundert ständig zugenommen und wächst weiter. Aber selbst, wenn wir davon ausgehen, daß Vereinsjubiläen früher seltener begangen wurden, bleibt dieses spröde Verhalten des Marburger Zweigvereins gegenüber sich selber merkwürdig. Aber wir können es erklären. Die Gründe dafür liegen in der Gliederung und der Verfassung des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde e.V. Kassel, die wir uns daher vergegenwärtigen müssen.
Als dieser Verein 1834 in Kassel als eine auf das ganze damalige Kurfürstentum Hessen bezogene Institution ins Leben gerufen wurde, lebte schon in seiner Gründungsversammlung am 29. Dezember 1834 die alte hessische Polarität wieder auf, wie sie sich jahrhundertelang in den beiden konkurrierenden Residenzen Kassel und Marburg verkörpert hatte. Denn damals trat dem Verein gleich eine ganze Gruppe Marburger Gelehrter bei. Sie entwickelte schon bald ein so ausgeprägtes Eigenleben, daß sie sich nur wenige Jahre später 1839 in doppelter Stärke zu einem eignen Marburger Zweigverein zusammenschloß. Dem Marburger Vorbild folgten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die dem Verein angehörenden Geschichtsfreunde in anderen Orten, so daß schließlich das ganze ehemalige Kurhessen mit einem Netz von Zweigvereinen des gesamthessischen Vereins überzogen war. Zwar waren diese Ortsvereine nicht immer alle zugleich aktiv und tätig, erloschen sogar teil- und zeitweise, lebten aber auch wieder auf und setzten ihre Tätigkeit fort, je nachdem, wie stark sich hier richtungweisende Persönlichkeiten engagierten. Das Bemerkenswerte an diesem Vorgang, der auch in anderen Geschichtsvereinen Schule machte, ist die Tatsache, daß diese Vereinsvielfalt im althessischen Bereich nicht zur Auflösung des Vereins in selbständige Zweigvereine führte, wie das etwa im Darmstädter und Wiesbadener Bereich weitgehend geschah, sondern nur zur Absplitterung einiger weniger, weit abgelegener Vereine wie Hanau, Schmalkalden und Fulda, die ihre Sonderinteressen in den Vordergrund stellten.
Dagegen können wir in Althessen von einem ausgeprägten Zusammengehörig-keitsgefühl und -bewußtsein sprechen, das die Zweigvereine mit dem Hauptverein verband. Es wurde dadurch gefestigt, daß die größten Zweigvereine seit 1875 satzungsmäßig in den Organen des Hauptvereins, dem Vorstand, dem Hauptausschuß und dem Redaktionsausschuß anteilmäßig vertreten waren, wodurch der Einfluß Marburgs gesichert war. Sie alle gemeinsam veranstalten jährlich die durchweg festlich gehaltenen, meist mehrtägigen Jahreshauptversammlungen, die ab 1863 nicht mehr nur in Kassel, sondern abwechselnd in den Städten der Zweigvereine und an anderen Orten gehalten wurden, gaben die jährlichen Mitteilungen heraus, in denen der Hauptverein und die Zweigvereine über ihre aktuellen Tätigkeiten berichteten, und sie redigierten die gemeinsame wissenschaftliche Zeitschrift des Vereins, die "ZHG". Aus diesen Gründen sahen sich die Zweigvereine jahrzehntelang vor allem als Glieder eines größeren Ganzen und weniger als selbständige Einrichtungen an, so daß nicht die Rückerinnerung an das eigene, sondern an das gesamte Vereinsleben für sie wesentlich war und in großen, gemeinsamen Feiern und Darstellungen zum Ausdruck kam, wie es für 1884, 1909 und auch noch für die Jahrhundertfeier 1934 bezeugt ist. Erst als zwischen dem Hauptverein und dem in ihm vorherrschenden Kasseler Zweigverein einer- und dem Marburger Zweigverein als dem zweitstärksten andererseits jene schweren Auseinandersetzungen ausgebrochen waren, die das Band beinahe zerrissen hätten, besann sich der Marburger Verein erstmals wenigstens andeutungsweise auf seine eigene Geschichte. Das war, wie ich erwähnte, 1909.
In den bis dahin vergangenen 70 Jahren war das Marburger Vereinsleben in den ersten Jahrzehnten von Gestalten geprägt wie dem Oberkonsistorialrat Karl Wilhelm Justi, dem Herausgeber der "Hessischen Denkwürdigkeiten", und dem Vorsitzenden und Marburger Gymnasialdirektor August Vilmar. Er ist die erste Größe des Marburger Vereins gewesen, denn seine in dieser Zeit (1845) erschienene Geschichte der

 

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