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trat eine gewisse Veränderung in der gesellschaftlichen Struktur des Vereins ein, denn nunmehr dehnte er sich auch auf das gehobene städtische Bürgertum der Kaufleute und Handwerker aus. Im Jahr 1880 finden wir unter ihnen die Brauereibesitzer Bopp und Lederer, die Hotelbesitzer Leukeroth und Schwaner, die Tapetenfabrikanten Schäfer und Weber, den Kaufmann Klein. Ihm gesellen sich 1884 zu der Kaufmann Schaaf, die beiden Schlossermeister Müller, der Uhrmachermeister Freund, der Photograf Risse, der Glasermeister Schippe!, der Lederwarenhändler Dörlam. Jetzt erstmals finden wir auch Künstler und selbst Studenten im Verein, vertreten durch den Bildhauer Schönseifer und den stud.med. Schedtler. Als erstes jüdisches Mitglied begegnet 1884 der Landrabbiner Leo Munk.
Aber noch einer sich damals anbahnenden Veränderung muß gedacht werden. In den ersten 50 Jahren seines Bestehens war der hessische Geschichtsverein eine reine Männersache, was jedoch nicht hinderte, daß - nachweisbar seit 1867 - immer häufiger auch Frauen die öffentlichen Veranstaltungen des Vereins besuchten. Auf Grund dessen beschloß die Jahreshauptversammlung 1882 in Fritzlar einstimmig, künftig auch Frauen als Mitglieder aufzunehmen, was damals ungewöhnlich war. Bereits zwei Jahre später, 1884, lassen sich die ersten nachweisen. Das waren in Hanau die Frauen des Generals Frey und des Majors Will, in Hünfeld Frau v. Heppe und in Neustadt die Lehrerin Herzig. Dem Kasseler Zweigverein gehörten 1887 bereits 9 Frauen an, darunter 3 Freifrauen, während der Marburger Zweigverein wiederum ein völlig abweichendes Bild zeigt. Hier sind nämlich erst 30 Jahre nach 1882 auch Frauen Mitglieder des Vereins geworden. Das waren 1913 Frau Dr. Horst, Fräulein Kunisch und Fräulein Manne1. Seitdem ist der Anteil der Frauen zuerst langsam, aber stetig weiter gewachsen. 1952 waren von den 142 Mitgliedern des Marburger Vereins 24 Frauen, also knapp ein Sechstel, 1966 waren es von 205 Mitgliedern bereits 55, also ein gutes Viertel. Die Gründe für diese Veränderung sind dieselben wie für das geschilderte starke Anwachsen der allgemeinen Mitgliederzahlen. Sie bestehen im Wandel des Vereins von einer kleinen aktiven zu einer größeren, mehr rezeptiven Gruppe, d.h. von einer vor allem kulturschaffenden zu einer mehr und mehr kulturvermittelnden Vereinigung. So möchte ich Wesen und Wandel vom alten zum heutigen Verein charakterisieren.
Diese Entwicklung muß wohl als die stärkste Umformung angesehen werden, die der Verein erlebt hat, wobei man sich gleichwohl dessen bewußt bleiben muß, daß sie die gesellschaftliche Schichtung seiner Mitglieder kaum berührt hat. Der Verein war eine Schöpfung der bürgerlich-gelehrten Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts und ist es im wesentlichen bis heute geblieben. Aber darüberhinaus hat ihm offenbar auch immer ein überständisches, irreales Moment innegewohnt, denn das bezeugen Mitgliederschaften wie die des Ultraorthodoxen Vilmar, des Sonderlings Bickell, des Künstlers Ubbelohde, des Freisinnigen Hamann oder des Sozialisten Abendroth, der 1969 in der Marburger Mitgliederliste erscheint. Die Dominanz der städtischen,bürgerlich-gelehrten Gesellschaft bedingte, daß weder die bäuerliche noch die Arbeiterbevölkerung im Verein vertreten war. Die ersteren waren in den niederhessischen Kleinstädten, in denen die Zweigvereine saßen, überhaupt nicht, und die anderen bis zur Mitte unseres Jahrhunderts kaum vertreten, wenn wir etwa von Hanau, Kassel und Eschwege absehen. Das hier tonangebende Handwerk war dagegen in begrenztem Maße beteiligt. An dieser Tatsache vermochte der Verein selbst allerdings nichts zu ändern, denn er stand zwar jedem offen, hatte aber keinen Einfluß darauf, wer sich an ihm beteiligen wollte und konnte, denn seine Ziele erforderten ja gerade in den ersten Jahrzehnten tätige Mitarbeit, die jedoch an Voraussetzungen gebunden war, über die nur ein kleiner Teil der Bevölkerung verfügte.
Diesen Voraussetzungen haben allerdings die Leistungen des Vereins bis etwa zum ersten Weltkrieg in jeder Weise entsprochen. Das gilt in ganz besonderem Maße für ' die beiden Zweigvereine Kassel und Marburg, die jahrzehntelang im Hinblick auf ihre wissenschaftlichen Leistungen geradezu wetteiferten. Dabei zeigte sich in den ersten Jahrzehnten bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Kasseler Verein deutlich überlegen, dann trat Marburg immer stärker hervor. Dieser


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