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Einer der führenden Köpfe der Kasseler Gemeinde, der die Erinnerung wachhielt, war Jakob Pinhas. Vormals Redakteur des offiziösen "Westphälischen Moniteur", war er seit 1814 Herausgeber der "Casselschen Allgemeinen Zeitung", der gedul dig, aber zähe um die Wiederherstellung der bürgerlichen Rechte der Juden kämpfte.6) Ihm begegnet im Jahre 1817 Moses Büdinger. Wer ist das?

Geboren wurde er am 14. Januar 1784 in Mardorf, einem kleinen Dorf im damals noch kurmainzischen Amt Amöneburg. Dort wuchs er als jüngstes von sieben Geschwistern in einem frommen, aber äußerst armen Elternhause auf. Sein Vater, Mardochai Baruch, war ein gelehrter Jude, dem über dem Studium des Talmud und aus mangelndem Geschäftssinn ein ererbter Wohlstand zerronnen war, so daß seine Mutter, Bunle Simon, eine gebildete Rabbinertochter aus Büdingen, die Familie mit Spitzenklöppeln, Handschuhstricken und anderen Handarbeiten über Wasser halten mußte. Die Mutter, der zu Ehren Moses sich später, als Juden bürgerliche Namen annehmen mußten, Büdinger nannte, führte den Vierjährigen in die Anfänge der Heiligen Schrift und das übersetzen aus dem Hebräischen ein. Zeitweilig lieb ein Verwandter ihn am Unterricht eines polnischen Hauslehrers teilnehmen, von dem Büdinger später sagt, daß er hier "eine nicht gewöhnliche Kenntnis der hebräischen Sprache und der Bibel" erhalten habe.7) Im 7. und 8. Lebensjahr unterwies ihn sein Vater, Büdinger erinnert sich an den siebzigjährigen frommen Greis, wie er, "in die Pantoffeln tretend und die Pfeife anbrennend, die große ehrwürdige Bibel vom Bücherborte herunterholte, sie auf den Tisch legte", ihn davor setzte und, "indem er lehrend und erklärend immer die Stube auf und ab ging",8) den Pentateuch übersetzen ließ. Vom 9. bis zum 12. Lebensjahr hielt ein wohlhabender Verwandter, F. Löb, dem aufgeweckten und begabten Jungen einen eigenen Hauslehrer, der ihn, von den Ideen Moses Mendelssohn begeistert, mit moderneren Vorstellungen der jüdischen Glaubenslehre vertraut machte. Es sei dahingestellt, wieviel der Zehn- und Elfjährige davon schon verstanden hat, immerhin hält der erwachsene Büdinger diese Periode für "eine der wichtigsten (seines) Lebens", die ihm "Sinn und Urtheilskraft... und in gewisser Hinsicht auch das religiöse Gefühl angeregt und gestärkt (habe)".9)

Überhaupt scheint auch das Elternhaus sich liberaleren Auffassungen des Judentums nicht zu verschließen; denn Moses lernte auch, was nicht selbstverständlich war, die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Diesen Unterricht, dazu im Rechnen, erteilte ihm im 12. Lebensjahr täglich 1-2 Stunden ein in Mardorf wohnender Theologiestudent, der aus Krankheitsgründen sein Studium hatte aufgeben müssen. Er eröffnete dem mit hebräischen Lettern und im umgangssprachlichen Judendeutsch aufwachsenden Jungen eine neue Welt. "Ohne ihn", bekennt Büdinger, "würde mir sicher die deutsche Sprache noch lange fremd, und manches, worüber mir der Gute Licht gab, auf ewig verborgen geblieben sein".10) Dieser erfolgversprechende Anfang, der vielleicht geradeswegs in eine Gelehrtenlaufbahn - zumindest die eines Rabbiners, wie die Mutter es wünschte - eingemündet wäre, wurde jäh abgebrochen, als die Mutter starb. Moses war 13 Jahre alt und gezwungen, seinen Lebensunterhalt bei einem Verwandten als Gehilfe im Vieh- und Kleinhandel zu verdienen, einem Beruf, zu dem er, wie er selber sagt, "doch nicht die mindeste Anlage sowohl des Geistes als des Körpers hatte". Diesen Bruch in seinem Leben empfindet Büdinger noch in fortgeschrittenem Alter. "Gott, was hätte aus mir werden können!" Er klagt: "hätte mein Vetter und Wohltäter F. Lob... das begonnene gute Werk fortgesetzt, was er doch so gut gekonnt hätte ....Oder wenn ein anderes wohltätiges Auge mich bemerkt und befördert hätte".11) Stattdessen beobachteten mißtrauische Augen seine Unfähigkeit zum Viehhandel, und wenn er davon träumte, in die Welt hinauszugehen, fragten seine Angehörigen spöttisch, wie so ein "Einfaltspinsel" darin wohl zurechtkommen wollte. 5 Jahre hielt er diese seelische Tortur aus, dann entfloh er ihr bei Nacht und Nebel.

Von Anfang an war er bestrebt, sein Brot mit den Mitteln zu verdienen, die ihm zur Verfügung standen. Er verstand so viel Hebräisch und Deutsch, daß er sich

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