Gerstheimer bereit, die Fragmente ehrenamtlich zu digitalisieren. Erschließung wie auch Digitalisierung fanden nach Standards der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) statt.
Der Katalog, der als Band 21 der Schriften und Medien des Landeskirchlichen Archivs Kassel erschienen ist, bietet eine großfonnatige Abbildung und Beschreibung jedes einzelnen Fragmentes. Einleitung und Register führen in die ungewöhnlich spannende Materie ein und möchten im Umgang mit diesem einmaligem Kulturgut, das am besten als Depositum im Landeskirchlichen Archiv Kassel lagert, sensibilisieren: Warum wurden mittelalterliche Handschriften im 16. und 17. Jahrhundert zu Einbänden recycelt? Was haben Buchdruck und Reformation damit zu tun? Woher kommen die Handschriften? Welche Rolle spielten die Klöster Fulda und Hersfeld? Was ist ein Missale, was ein Brevier?
Recycling von mittelalterlichen Handschriften im 16. und 17. Jahrhundert
Der Handel mit Pergamenthandschriften als Material für Bindungen nahm seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts einen starken Aufschwung, da die Entwicklung des Buchdrucks den Bedarf enorm steigerte. Zudem verloren im Zuge der Reformation durch Auflösung von Klöstern und die Ausbreitung des evangelischen Glaubens viele, vor allem liturgische Handschriften ihre Funktion. Sie behielten aber ihren Materialwert, und so wurden die Pergamente, auch ganze Pergamentcodices zweckentfremdet. Buchbinder lösten Blatt für Blatt aus den Holzdeckeln und verwandten das wertvolle Material zur Heftung von Akten und Kirchenrechnungen oder als Überzug und Vorsatzmaterial bei (Kirchen-) Bucheinbänden. Auch zur Reparatur von Blasebälgen der Orgeln oder zum Abdichten von Ritzen in Kleiderschränken war das beschriebene Pergament willkommen. Heute gelten die damals recycelten Handschriften als hohe Zeugnisse kultureller Tradition. Anders im 16. Jahrhundert, als sich der Buchdruck ausbreitete. Viele bisher nur als Handschrift vorliegende Texte waren nun in „modernen" gedruckten Ausgaben verfügbar. Wer die Mittel hatte, ersetzte das Manuskript durch den Druck.
Virtuelle Restaurierung
Mit der Zweitverwendung als Einband wurde die Lesbarkeit der Fragmente zum Teil erheblich beeinträchtigt. In vielen Fällen lassen sich Inhalt und Bedeutung eines Fragments dennoch ohne Loslösen vom Trägerband bestimmen. Hier eröffnet das Digitalisieren neue Möglichkeiten. Mit geringem Aufwand können Fragmentreste virtuell zusammengesetzt werden. Die digitale Bildbearbeitung erlaubt, fachgerecht eingesetzt, oft eine deutlich bessere Lesbarkeit.
Klassifikation der Fragmente
Liturgische Fragmente, hier insbesondere Missale und Breviere, machen den größten Teil der im Katalog zusammengestellten Fragmentsammlung aus. Ebenfalls reichlich vertreten sind Bibeltexte und -kommentare. In einzelnen Fragmenten begegnen juristische und hebräische Fragmente. Zu den Kuriositäten zählen zwei medizinisch-pharmazeutische Texte. Das Einbandfragment der Kirchengefälle Mengeringhausen 1639 handelt von der Uroskopie, der Harnschau zu diagnostischen Zwecken. Ein weiteres Fragment (Rechnung Allendorf 1641) enthält Rezepttexte und beschreibt die Wirkungsweise der Mixturen. So werden Nutzen und Anwendung opiumhaltiger Präparate besprochen, beispielsweise nach einer Abfiihrkur, „um die in Bewegung geratenen Körpersäfte zu kontrollieren und wieder zu normalisieren". Diverse Pulvermischungen sollen bei Verdauungsproblemen, Schmerzen in der Milz, „Verstopfung der Leber" oder gegen Schwindel und Nacht vor den Augen helfen. Schließlich ist auch zu erfahren, wie man einer Schwangeren ansieht, dass sie ein männliches Kind austrägt: Sie hat ein leuchtendes Angesicht, runde und glatte Gliedmaßen sowie einen nach der rechten Seite geschwollenen Leib, wo der Körper allgemein stärker sei. Dagegen deuten eine missfarbene und verrunzelte Erscheinung der Frau auf die Geburt „nur" eines Mädchens hin.
Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche weitere Fragmente in den Pfarrarchiven vor Ort darauf warten, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und an das Licht der Öffentlichkeit geholt zu werden. Deshalb haben alle Pfarrämter in
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