umgehend die niederhessischen Landstände an den Spies.
Landstände waren die adligen Lehnsleute (Grafen, Ritter), die Vorsteher der Klöster und Stifte („Prälaten") und die Abgesandten, meist Bürgermeister, der Städte. Auch die im Testament zu Rat und Beistand aufgeforderten Herzöge von Sachsen entsandten Räte. Zwischen den Häusern Hessen und Sachsen bestand ein Erbvertrag, der sie im Falle des Aussterbens in männlicher Linie gegenseitig zu Erben einsetzte. Da Philipp der einzige männliche Spross des Hauses Hessens war, konnte der Erbfall jederzeit eintreten.
Der Ort des Landtags, der Wartturm am Spies, lag an der Grenze Niederhessens zur Grafschaft Ziegenhain. Es war nicht, wie manchmal behauptet wird, der traditionelle hessische Landtagsort. Hessische Landtage fanden an wechselnden Orten statt. Vor dem Anfall Ziegenhains an Hessen 1450 kam er schon wegen der Grenzlage nicht als Landtagsort in Frage. Wichtig wurde er dann aber im Konflikt zwischen den Landgrafenbrüdern Ludwig 11. in Kassel und Heinrich III. in Marburg. Er markierte die Grenze ihrer Herrschaftsgebiete, und 1459-1469 trafen sich die Brüder dort siebenmal zu Verhandlungen, 1467 auch mit je 5 Rittern und je 5 Städtevertretern als Vermittlern. Doch Landtage waren das nicht. Als Ort eines Landtags wurde der Spies erst 1488 und dann wieder 1509 genutzt. Ein Landtag dauerte idealiter einen Tag. Im mündlichen Verfahren traf man die wesentlichen Entscheidungen. Man stimmte nicht nach Kopfzahl ab. Ein Beschluss war gefasst, wenn keine wesentlichen Einwände mehr geäußert wurden. Es galt der Grundsatz: „Wer schweigt, stimmt zu". Einzelheiten konnten einem beauftragten Ausschuss überlassen werden. Ein Landtag auf freiem Feld hatte etwas Plebiszitäres. Er bedeutete Öffentlichkeit und größtmögliche Teilnahme aller Landstände an der Entscheidung. Gleichzeitig aber setzte er einer differenzierten Beratung Grenzen. Zudem konnte das Wetter den Widerspruchsgeist dämpfen und die Entscheidung beschleunigen. Wenn in kritischer Situation ein schneller Be
schluss gewünscht wurde, bot sich ein Landtag im Freien an.
Unmittelbar nach dem Tode des Landgrafen Wilhelm lud die Witwe die Stände auf den 19. Juli an den Spieß, um Wilhelms Testament anzuhören. Auch die Fürsten von Sachsen wurden gebeten, ihre Räte zu entsenden. Der Grund dafür war der Erbvertrag zwischen den Dynastien von Hessen und Sachsen. Jede sollte die andere bei ihrem Aussterben in männlicher Linie beerben. Da die hessische Dynastie nur noch aus dem Kind Philipp bestand, konnte ihr Aussterben nahe bevorstehen.
Als die junge Landgräfin am 19. Juli das Testament zu verlesen befahl, erhob sich ein Tumult. Die Stände weigerten sich, das Testament anzuhören, weil die oberhessischen Stände abwesend waren. Eine Trennung der Stände wollten sie nicht dulden. Anna musste den Landtag auf den 24. Juli vertagen und auch die oberhessischen Stände an den Spieß laden. Während man auf das Eintreffen der Oberhessen wartete, schworen die Ritter, eine Regentschaft der Landgräfin unter keiner Bedingung hinzunehmen. Dabei fielen pathetische Worte: Lieber wollten sie sich alle erwürgen lassen, als sich von einer Frau regieren zu lassen. Auch wenn, wie sie gehört hätten, Herzog Georg von Sachsen die Landgräfin militärisch unterstützen wolle, so sei ihnen davor nicht bange. Sie würden gegen ihn kämpfen und ihm einen Denkzettel geben, an den er und seine Kindeskinder sich ewig erinnern würden.
Als dann am 24. Juli das Testament verlesen wurde, widersprachen die Stände sofort dem Artikel über die weibliche Regentschaft. Er sei gegen das Herkommen. Regieren sei kein Frauenwerk. Die Landgräfin solle sich, wie andere Witwen, auf ihren Witwensitz zurückziehen. Tue sie das nicht, würden sie sich ihr militärisch widersetzen und zu diesem Zweck auch auswärtige Hilfe annehmen. Einer der Empörer soll geäußert haben, man müsse schon im Blut waten, ehe man sich einer Frau unterwerfe. Der Tag ging ergebnislos zu Ende. Am nächsten Tag vermittelten die sächsischen Räte. Eine vorläufige Regierung aus Vertretern der Stände und Vertrauten der Landgräfin sollte amtieren, bis die Regentschaft auf einem von
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