Dokumentation zum Tag der Hessischen Landesgeschichte am 19. September 2009 in Kassel
175 Jahre 1834−2009  Verein für hessische Geschichte und Landeskunde Kassel 1834 e.V

 

ausdifferenzierenden bürgerlichen Gesellschaft. Das gilt auch für Deutschland. Zwar hocken hier in den Zitadellen der Macht nach wie vor die Repräsentanten der Aristokratie, die auch sonst allerlei Privilegien behauptet, aber für Dynamik und Wagemut, für Geltung und Aufstieg des Gemeinwesens sorgt nicht sie, sondern das Bürgertum.
Rein quantitativ sind die bürgerlichen Schichten in der Minderheit. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beläuft sich auf sechs bis zehn Prozent, den gesellschaftlichen Wandel jedoch haben sie maßgeblich vorangetrieben, beeinflusst und gestaltet. Ein Bürger war nicht allein durch rechtliche, soziale und wirtschaftliche Merkmale bestimmt, sondern mindestens ebenso sehr durch kulturelle. Auch und vielleicht zuvorderst durch sie hob er sich ab von den Sphären der Feudalität und denen des ‚Pöbels‘, denen der Unterschichten. Seine Lebensführung gründete im Glauben an die allgegenwärtige und regulierende Macht der Vernunft. Bildung, Wissenschaft und Pädagogik, individuelle Leistung, persönliche Entfaltung und Bewährung, Kunst, Musik und Literatur, auch die Familie als rechtlich geschützter Raum der Ordnung und Intimität standen dabei hoch im Kurs. In diesem Sinne stiftete Kultur ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit. An ihr teilzuhaben wurde zum Signalement und Statussymbol, sie setzte gesichertes Einkommen, freie Zeit und Muße voraus, für die Frauen Entlastung durch dienstbare Geister. Bürgerliche Kultur integrierte, tendierte zur Exklusivität und grenzte ab, zugleich aber strebte sie nach Verallgemeinerung, erhob universelle Geltungsansprüche. Das heißt: Die Gesellschaft sollte verbürgerlichen, sollte sich die kulturellen, politischen, moralischen und sozialen Ideale des Bürgertums anverwandeln.
Die Prozesse, in denen die bürgerliche Gesellschaft sich konstituiert, finden ihren Ausdruck in vielfältigen Formen. Eine davon ist der Verein: ein Ort der Kommunikation und Interaktion, ein Element sozialer Organisation. Er beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, verfolgt spezielle, meistens in Satzungen näher bezeichnete Zwecke. Die Mitgliedschaft ist gewöhnlich unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand oder einer bestimmten Klasse. In Deutschland tauchen die ersten Vereine im letzen Drittel des 18. Jahrhunderts auf. Zunächst zahlenmäßig beschränkt, erfassen sie einen vergleichsweise kleinen Kreis von Gebildeten. Aber seit ungefähr 1820 wird daraus eine von breiteren Schichten der Bevölkerung getragene ‚Bewegung‘, die den Übergang von der älteren, ständisch gebundenen zur offenen, von individueller Leistung und Mobilität geprägten bürgerlichen Gesellschaft nicht nur widerspiegelt, sondern auch vorantreibt. Das Vereinswesen bzw. im Sprachgebrauch der Zeitgenossen: die ‚Assoziation‘ wird zu einem der wichtigsten Kennzeichen der Epoche, wird – wie Wolfgang Hardtwig bemerkt hat – „zum Kristallisationskern politischer Emanzipationsansprüche“. Zu beobachten ist eine wahre Assoziationsleidenschaft, ein wahres Assoziationsfieber. Im Verein finden die Bürger Möglichkeiten zu selbstbewusster Teilhabe am öffentlichen Leben, ein Forum zur Diskussion gemeinsamer Überzeugungen und Interessen. Die Motive, aus denen heraus man sich trifft, sind ebenso vielfältig wie die Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt. Dabei spielt der Wunsch nach Geselligkeit ebenso eine Rolle wie der nach dem Erwerb von Kenntnissen oder der

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