Dokumentation zum Tag der Hessischen Landesgeschichte am 19. September 2009 in Kassel
175 Jahre 1834−2009  Verein für hessische Geschichte und Landeskunde Kassel 1834 e.V

 

nach Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse.
Parallel zur fortschreitenden Differenzierung der sich modernisierenden Welt differenzieren und spezialisieren sich auch die Vereine. Es gibt ökonomische und naturwissenschaftliche, Landwirtschafts-, Gewerbe- und Wohltätigkeitsvereine, Schul-, Gesangs-, Turn-, Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine. Der Verein dient als Vehikel, um Mensch zu werden, wie Stephan Born, der Führer der Arbeiterverbrüderung von 1848, nicht ohne zeitgemäßes Pathos schreibt. Kein Wunder, dass in den Vereinen der Glaube an Vernunft und Fortschritt das Denken und die Aktivitäten beherrscht. Man fördert Künste und Wissenschaften, Handel und Wandel, ist begeistert von neuen Technologien, propagiert rationelle Methoden des Wirtschaftens, unterstützt Hilfsbedürftige, lindert die Not der Armen und Gestrauchelten. Das geschieht größtenteils in Kooperation mit der staatlichen Bürokratie, die sich selber als Agentin eines von oben zu steuernden gesellschaftlichen Wandels begreift. Um die Mitte des Jahrhunderts sind dann allerdings gravierende Veränderungen zu beobachten. Die – im Blick auf ihre Erwartungen – gescheiterte Revolution von 1848 verlagert das Feld der bürgerlichen Aktivität: nicht sofort, aber doch nachhaltig. Zwei neue Formen der Organisation schieben sich allmählich in den Vordergrund: die Partei und der Verband. Bürgerliche Politik wird pragmatisch oder wie man damals sagte: ‚realistisch‘, verabschiedet sich von hochfliegenden ‚Prinzipien‘. Realpolitik lautet fortan das Panier. Vor allem aber – und das läuft parallel zu den Prozessen der Politisierung auch des Vereinswesens: bürgerliche Politik beginnt sich um handfeste Interessen zu gruppieren. Dabei spielen die Verbände eine zentrale, kaum zu überschätzende Rolle. Um 1900 sprechen kritische Sozialwissenschaftler von Ökonomisierung der Politik und sehen darin eine der wesentlichsten Signaturen der Moderne. Vereinfachend gesagt: Die erste Hälfte des Jahrhunderts wird geprägt von der Assoziation, vom Verein, die zweite von der Partei und vom Verband.
Zu diesem vielgestaltigen Geflecht von Vereinen gehören die Geschichtsvereine. Sie sind Kinder des Revolutionszeitalters, in ihnen lebt die Erfahrung des Traditionsverzehrs, die Erfahrung, dass jahrhundertelang gültige Überlieferungen und Gewissheiten obsolet werden oder doch obsolet zu werden drohen. Die Revolution oder anders: der gesellschaftliche Wandel, der zu einem Phänomen in Permanenz wird, weckt und befestigt das Bedürfnis nach Informationen über die Vergangenheit. Die Revolution gebiert das Archiv, das sammelt, aufbewahrt, der Erinnerung dient. Die Geschichtsvereine tun das auch: Auch sie sammeln, archivieren und systematisieren die Zeugnisse vergangener Wirklichkeiten, bringen die Befunde unter die Leute, verschreiben sich der historischen Bildung. In Deutschland verbindet sich dies mit der Aversion gegen die Suprematie Frankreichs, gegen die Vorherrschaft des Französischen. Modellhaftes Denken oder gar die Revolution jenseits des Rheins als Vorbild für die Gestaltung der eigenen Geschicke zu akzeptieren, lehnt man ab. Diese Abneigung erhält durch die napoleonische Hegemonialpolitik mächtige Nahrung. Die Überzeugung, dass man einen individuellen, einen deutschen Weg in die Moderne finden müsse, wird zum Gemeingut der gebildeten Schichten, die nicht auf Revolution, sondern auf Evolution setzen, auf

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