Dokumentation zum Tag der Hessischen Landesgeschichte am 19. September 2009 in Kassel
175 Jahre 1834−2009  Verein für hessische Geschichte und Landeskunde Kassel 1834 e.V

 

Entwicklung, welche die Tradition nicht zerstört, sondern anpasst, zeitgemäß fortschreibt. Dem historisch Gewachsenen kommen per se, kommen als solchem Rechtmäßigkeit und Geltungsanspruch zu.
In der Abgrenzung gegen das Andere, das Fremde konstituiert sich das Eigene. Die Deutschen suchen ihre Identität durch Polemik, durch Abweisung des westlichen Nachbarn. Von hier ist es nicht weit bis zur Feinderklärung. Frankreich wird zum ‚Erbfeind‘: auf ewig und immerdar, gewiss ein Phantasma, aber wirksam bis weit in das 20. Jahrhundert. Die Historie liefert für solche Mentalitäten das nötige Anschauungsmaterial und wichtiger noch: die nötige Legitimation. Überhaupt wird die Geschichte zu einer ubiquitären Lebens- und Deutungsmacht. Angefacht durch die Strömungen der Romantik, beglaubigt sie das Bedürfnis nach Kontinuität und volklicher Individualität. Jedes Volk, lautet seit Herder das Credo, hat seine spezifische, nur ihm zugehörige, historisch gewachsene Wesensart und Bestimmung. Diesen ‚Volksnomos‘ ins Bewusstsein zu heben, ist Aufgabe der Historie. Das macht ihren Rang aus, auch den Rang derer, die sie verwalten: stattet das Tun der Archivare, der Bibliothekare, der Professoren an Universitäten und Gymnasien mit besonderer Dignität, mit besonderem Prestige aus. Um die Gegenwart zu begreifen, bedarf es der Kenntnis der Vergangenheit. Die Beschäftigung mit ihr hat eine sehr praktische Dimension, ent-springt nicht primär antiquarischen Bedürfnissen, sondern hat eine das Urteil schulende, die Meinung bildende und das Handeln anleitende Funktion. Theoretisch untermauert wird dies alles vom Historismus: ein Gedanken- und Theoriegebäude, das an der Wiege der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung steht, in der Wirkung aber weit über enge disziplinäre Grenzen hinausweist. Insofern ist das bürgerliche 19. Jahrhundert zugleich ein Jahrhundert des Historismus, der erst um 1900 an Grenzen stößt, an Vitalität und Akzeptanz einbüßt, in die Krise gerät.
II.
Hermann Heimpel hat die deutschen Geschichtsvereine des 19. Jahrhunderts in Gruppen eingeteilt. Darin spiegeln sich Entstehungszeit und Selbstverständnis. Die zwischen 1819 und 1848 erfolgten Gründungen nennt er „vormärzlich“. Nach den Kriegen von 1813/14, den sogenannten ‚Befreiungskriegen‘, seien sie wesentlich „konservative“, der Bewahrung „dienende Gebilde“ gewesen: „Gewiss“, konstatiert Heimpel, „die Anfänge gehören in die vaterländische Bewegung gegen Napoleon, in den Aufruhr des Nationalgeistes von 1813, aber was davon jakobinisch schien oder liberal, gar demokratisch sein wollte, floss eher in die Vereine der Turner und Sänger als in die Vereine der Geschichtsfreunde.“ Das auf die Nation bezogene Streben ist durchaus präsent, tritt in der Praxis aber zurück, im Vordergrund steht das Interesse am ‚Vaterland‘, der ‚patria‘ im engeren Sinne, an demjenigen Staat in der deutschen Staatenwelt, in dem man jeweils zu Hause ist. Man widmet sich der Geschichte der Region, des Territoriums, durchforstet Räume, die im Rahmen des deutschen Föderalismus relativ eng umgrenzt sind, sprengt diese Grenzen nicht, bestätigt sie vielmehr. Dieses Verständnis von ‚Vaterland‘, in dem das große, das gesamtdeutsche stets mitschwingt, aber doch nur mehr oder weniger, dieses Verständnis von Vaterland wird nach und nach abgelöst vom Begriff „Heimat“, im Grunde genommen erst seit Mitte des Jahrhunderts. Das hängt

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