Dokumentation zum Tag der Hessischen Landesgeschichte am 19. September 2009 in Kassel
175 Jahre 1834−2009  Verein für hessische Geschichte und Landeskunde Kassel 1834 e.V

 

war Verfassungspolitik im Horizont ihrer Protagonisten nichts anderes als Ausdruck und Garant einer antirevolutionären Vereinbarungspolitik, die den friedlichen Ausgleich widerstreitender Interessen, organische Entwicklung und kontinuierliche Beförderung des allgemeinen Wohls versprach.
Die Verfassung, die Wilhelm II. am 5. Januar 1831 in Kraft setzte, sollte, wie es in der Präambel hieß, ein „Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Untertanen“ sein, betonte allerdings die Prävalenz des Monarchen. Im Urteil der Zeitgenossen stieß sie durchaus auf positive, bisweilen sogar auf unerwartet positive Resonanz. Karl Marx, der sich dazu 1859 rückschauend äußerte, sah in ihr das „liberalste Grundgesetz“, das „je in Europa“ verkündet worden sei: „Es gibt keine andere Verfassung“, konstatierte er, „die die Exekutive in so engen Grenzen hält, die Verwaltung so abhängig macht von der Legislative und der Justiz eine so weitreichende Kontrolle anvertraut.“ Innerhalb weniger Monate, so mochte es scheinen, hatte sich Hessen-Kassel aus einer Position des Nachzüglers in die vorderste Front des politischen Fortschritts katapultiert. Die Praxis der kommenden Jahre sollte diesen Eindruck zwar erheblich relativieren, aber die Verfassungsurkunde von 1831 gehörte zweifellos zu den originären und ambitionierten Dokumenten eines zeitgemäß moderaten Konstitutionalismus. Im Einklang mit den Theorien des vormärzlichen Liberalismus gewährte und verbürgte sie einen Kernbestand an individuellen Freiheitsrechten: Freiheit der Person und des Eigentums, Gleichheit vor dem Gesetz, freie Berufswahl und freier Zugang zu den öffentlichen Ämtern, Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit, nicht jedoch Vereins- und Versammlungsfreiheit. Abgestützt und komplementär ergänzt wurde dieser Katalog durch Eidesleistung des Landesherrn und der männlichen Staatsangehörigen. Die Trennung von Justiz und Verwaltung stellte das Rechtswesen auf ein solides, zukunftsträchtiges Fundament; Gemeinden und Städte sollten ebenso reformiert werden wie die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Bestehende Handels- und Gewerbemonopole wurden abgeschafft, die Leibeigenschaft wurde endgültig und unwiderruflich aufgehoben, Frondienst und Feudallasten konnten abgelöst werden. Selbst die Bürgergarden, die sich in den Tagen der revolutionären Unruhen formiert hatten und machtpolitisch ein neuralgischer, die monarchische Kommandogewalt berührender Faktor waren, wurden neben der Armee als dauerhafte Einrichtungen zur Sicherung der „inneren Ruhe und Ordnung“ anerkannt. Ein ebenfalls projektiertes und beratenes Pressegesetz musste im Frühjahr 1832 allerdings zu Grabe getragen werden.
Abweichend vom Modell der frühkonstitutionellen Staaten Süddeutschlands, hatte man sich für das Ein-Kammer-System entschieden. In Kassel gab es daher keine privilegierte, mit Vetorecht ausgestattete Adelskurie. Dass hier Aristokraten, Bürger und Bauern bunt gemischt im selben Saal saßen, bot jedenfalls ein ungewöhnliches, von Beobachtern auch so empfundenes Bild. Von den 53 Sitzen der Ständeversammlung entfielen 21 auf Vertreter der Dynastie, der Standesherren, der althessischen und Schaumburger Ritterschaft, um nur diese zu nennen. Das war das traditionelle, das korporative Element. Die restlichen 32 Deputierten wurden zu gleichen Teilen in den Landgemeinden und Städten gewählt. Das mehrfach gestufte und relativ komplizierte Wahlrecht war indirekt, an Besitz-,

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