Dokumentation zum Tag der Hessischen Landesgeschichte am 19. September 2009 in Kassel
175 Jahre 1834−2009  Verein für hessische Geschichte und Landeskunde Kassel 1834 e.V

 

Vermögens- und Altersqualifikationen gebunden, war zudem, wie damals üblich, allein den Männern vorbehalten. Aktiv wahlberechtigt waren ca. 11 Prozent der Einwohner, passiv wahlberechtigt dürften ungefähr zwei Prozent gewesen sein. Wegen der lückenhaften Datenbasis sind das allerdings nur grobe Schätzwerte. Die Wahlbeteiligung war niedrig, nur in Kassel und einigen anderen Orten überschritt sie die Marke von 50 Prozent. Unter den Abgeordneten dominierten Staats- und Kommunalbedienstete, Landwirte, Gutsherren und Advokaten. Unterrepräsentiert waren Handwerk und Gewerbe, gänzlich ausgeschlossen die unter- und kleinbürgerlichen Schichten, mithin diejenigen, die 1830 mit ihren Protestaktionen Dienste als parlamentari-sche Geburtshelfer geleistet hatten.
Gemeinsam mit dem Kurfürsten und dem Staatsministerium übte die Ständeversammlung die Gesetzgebung aus. Sie hatte ein für die damaligen Verhältnisse einzigartiges Initiativrecht, bewilligte die Steuern und das Budget. Zwischen den Sitzungsperioden sorgte ein eigens eingerichteter Ausschuss für Kontinuität und verfassungskonforme Verfahren. Die Hürde für Verfassungsänderungen war hoch: Sie bedurften der Einstimmigkeit bzw. der Dreiviertelmehrheit in zwei aufeinander folgenden Landtagen. Das Institut der „Ministerverantwortlichkeit“ unterwarf die Regierung der legislativen Kontrolle: ein theoretisch scharfes, praktisch jedoch meistens stumpfes Instrument. Denn die Minister wurden weder gewählt, noch waren sie von parlamentarischen Vertrauensvoten abhängig. Nur wenn sie gegen die Verfassung verstießen, konnte Klage vor dem Oberappellationsgericht erhoben werden, was in begründeten Fällen die Entfernung aus dem Amt nach sich ziehen konnte. Ähnliches galt für die Beamten, über die allerdings die ordentlichen Gerichte zu befinden hatten. Den landständischen Kompetenzen direkt gegenüber standen die des Monarchen, dessen Person der Paragraph 10 für „heilig und unverletzlich“ erklärte. In seinen Händen ruhten die auswärtige Politik und die innerstaatliche Exekutive. Er ernannte die Minister, berief den Landtag ein, war befugt, ihn aufzulösen oder zu vertagen. Mit dem militärischen Oberbefehl verfügte er über weitere Eingriffsmöglichkeiten, die ihn zum ‚natürlichen‘ Gegenpol, sofern er wollte: auch zum aktiven Widersacher des Parlaments machten.
Wer dabei die Oberhand gewinnen würde, war eine offene Frage. Einer allerdings glaubte es schon damals zu wissen. In Kassel, notierte Ende Januar 1831 der Publizist Ludwig Börne, „sind die Rechte zwischen Regierung und Volk so geteilt, wie jener Jude mit einem dummen Bauern den Gebrauch eines gemeinschaftlich gemieteten Pferdes teilte: ‚Eine Stunde reite ich und du gehst, die andere Stunde gehst du und ich reite.‘“ Das war zwar eindrücklich formuliert, aber es verkannte den Charakter und die Chancen des Herrschaftskompromisses, der die Balance suchte zwischen den Mächten der Tradition und den Prärogativen der Krone einerseits, den bürgerlich-liberalen Sicherheits- und Partizipationsbedürfnissen andererseits. Der in der Verfassung verankerte Dualismus wies allerdings eine gewisse Schieflage auf, und es zeigte sich rasch, dass der Hof am längeren Hebel saß. Das monarchische Prinzip war wohl geschwächt und konstitutionell gebändigt, wirklich zur Disposition gestellt wurde es jedoch nicht. Daher kam der Haltung des Staatsoberhauptes entscheidende Bedeutung zu. „Der Kurfürst“, monierte im

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