Dokumentation zum Tag der Hessischen Landesgeschichte am 19. September 2009 in Kassel
175 Jahre 1834−2009  Verein für hessische Geschichte und Landeskunde Kassel 1834 e.V.

 

und Wirkens“. Keiner „einseitigen Richtung“ wolle man huldigen, vielmehr die „Geschichte des Vaterlandes in allen ihren Verzweigungen auffassen“. Maßgeblich dafür seien zwei Pole: zum einen die Überlieferungen der Vergangenheit, zum andern die gegenwärtigen Zustände, gewissermaßen ein Anfangs- und ein Endpunkt, die durch historische Forschung im Blick auf Ursache und Wirkung miteinander zu verknüpfen seien.
Formulierungen wie diese bewegten sich durchaus auf der Höhe der Zeit, waren im Einklang mit dem, was auch von den Historikern an den Universitäten gelehrt wurde. Bernhardi sprach davon, dass man „alle Elemente ins Auge fassen“ müsse, die das „eigentümliche Schicksal eines Volkes“ bestimmten. Dazu gehöre auch die „Weltgeschichte“, fuhr er fort, die Weltgeschichte, „die in ihrem mächtigen Schritte das einzelne Volk unwiderstehlich“ mit fortreiße. Ferner sei „das Wirken der Fürsten und Herren des Landes und aller ausgezeichneten Geister“ zu berücksichtigen, die auf das „Schicksal ihrer Mitbürger“ (wohlgemerkt: der Mitbürger) eingewirkt hätten.“ Leopold von Ranke, der nur wenige Jahre zuvor seinen Studenten an der Berliner Universität die „Idee der Universalhistorie“ und die Prinzipien der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung erläutert hatte, Leopold von Ranke hätte das vermutlich „universales Interesse“ genannt. Die Geschichte nämlich erschöpfe sich nicht in Erzählungen von Krieg und Frieden, vielmehr müsse sie in ihrer Totalität, in der Gesamtheit ihrer Aspekte und Facetten erfasst und durchdrungen werden. Um noch einmal Bernhardi zu zitieren: Unter Geschichte verstehe man „die sorgfältige Erforschung des inneren Lebens“ der Staaten: „der besonderen Verhältnisse, Einrichtungen und Gestaltungen“, der „geistigen Entwicklung und Bildung“. Notwendig sei die „getreue Darstellung dieser im Stillen wirkenden Kräfte, welche auf das Wohl und Wehe der Völker einen viel mächtigeren Einfluss“ übten „als die meisten Kriege, Schlachten und Friedensschlüsse.“ Wir würden heute sagen: Die Geschichte bedarf der Kombination verschiedener Zugriffe, der biographischen ebenso wie der sozial- und politikhistorischen. Auch die übrigen Anforderungen an eine moderne Historiographie, die Ranke aufstellte, finden sich in Bernhardis Programmatik wieder: das eingehenden, tiefe Studium der Quellen, die Unabhängigkeit des Urteils, das Streben nach Objektivität, das Ergründen des „Kausalnexus“ oder anders formuliert: die Suche nach dem inneren Zusammenhang von Ursache und Wirkung, daneben aber auch die bewahrende, die antirevolutionäre Funktion der Geschichtswissenschaft.
Bernhardi und seine Mitstreiter waren überzeugt, dass die Beschäftigung mit der Geschichte ein „weites, fruchtbares Feld“ eröffne, „auf dem Erfahrungen reifen für die Gegenwart und für alle künftigen Zeiten.“ Auch das wusste sich im Einklang mit den Denkfiguren des Historismus, blieb freilich in den Geschichtsvereinen, auch im kurhessischen, mehr stillschweigendes Postulat als ausdrücklich geübte Praxis. Gravitationspunkte der Forschung nämlich waren die Epochen des Mittelalters, kaum die des 18. Jahrhunderts, geschweige denn die der unmittelbaren Vergangenheit. Zeitgeschichte lag nicht im Horizont der Vereine, und am Beispiel Wippermanns konnte man sehen, wohin ein urteilsstarkes Buch über die Konstellationen und Entwicklungen der neuesten Zeit führen konnte. Immerhin, in der „Erweiterung des

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