Leichname boten Soemmerring die einmalige Möglichkeit anatomischer Untersuchungen insbesondere der Sinnesorgane, des Nervensystems und des Knochenbaues. Er verglich die Ergebnisse mit Untersuchungen an Europäern, die er 1784 als Antrittsschrift in Mainz vorlegte. „Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer“ gilt als der erste wissenschaftliche Versuch, anthropologische Unterscheidungsmerkmale zu definieren in einer Zeit, als mit der Erforschung bisher unbekannter Regionen es zunehmend Kontakte mit deren Bewohnern gab. Dabei war allgemein sehr umstritten, wer zum „Menschengeschlecht“ zählte, was auch von erheblichem Einfluss auf die Diskussionen um die Sklaverei war. Im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen zählte Soemmerring die Afrikaner zum Menschengeschlecht und war wie Forster ein entschiedener Gegner der Sklaverei. Allerdings rückte er sie in Anlehnung an ein anthropologisches Entwicklungsmodell in Form einer Stufenleiter, an dessen Spitze der Europäer stand, „etwas näher ans Affengeschlecht“, als Angehörige andere Völker. Diese sehr vorsichtig geäußerte Ansicht war durchaus problematisch und rief schon damals berechtigte Kritik hervor, insbesondere von seinem Studienkommilitonen und lebenslangen Freund Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), Begründer der modernen Naturforschung, die Soemmerring aber nicht verstand. Für seine anatomischen Forschungen konnte Soemmerring in Kassel das modernste anatomische Theater seiner Zeit nutzten, welches erst im Jahr seiner Ankunft und in seinem Beisein in der Unterneustadt eröffnet wurde. Dieses erste Anatomische Institut in Deutschland bot dem Anatom, der praktischerweise im Obergeschoß seine Dienstwohnung hatte, hervorragende Arbeitsbedingungen. Noch im hohen Alter lobte er dessen Vorzüge und hielt es für das zweckmäßigste seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Bereits 1787, nach der Auflösung des Collegium Carolinum, wurde es abgetragen und in Marburg wieder errichtet. Seit dem Erstaufstieg eines mit Heißluft angetriebenen Freiballons 1783 durch die Brüder Montgolfier in Frankreich, dem später

 

Phantasiedarstellung von Soemmerring bei der Ver­messung eines menschlichen Schädels, Stich von Ernst Carl Gottlieb Thelott (1760-1834) nach Zeichnung von Joh. Peter von Langer (1756–1824),1786

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